Raum: Regionalitäten und materielle Kultur
Im Anschluss an den Spatial Turn hat die Historiographie ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf den Raum gerichtet. Wie Martina Löw und andere aufgezeigt haben, muss Raum als prozessual und relational sowie als sozial hergestellt und sozial wirkmächtig begriffen werden. Raumproduktionen sind immer Folge von Machtverhältnissen und Konflikten um Ressourcen. Nicht erst seit den massiven Grenzverschiebungen der letzten 250 Jahre handelt es sich bei Ostmitteleuropa um einen stark durch intra-, inter- und transregionale Phänomene geprägten Raum. Der Forschungsschwerpunkt widmet sich dem dynamischen Wandel und den beharrlichen Kontinuitäten dieser Region(en) vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Untersuchungen zur Regionalität werden dabei verbunden mit geschichtswissenschaftlichen Perspektiven auf materielle Kultur inklusive Kunst, Architektur und Numismatik. Diese Ausrichtung erlaubt die Einbeziehung von Disziplinen wie der Kunstgeschichte, Archäologie, Umwelt- und Technikgeschichte oder Dingforschung.
Weitere Beispiele, die sich für die Erforschung der Beziehungsgeschichte Deutschlands und Ostmitteleuropas in der Longue durée anbieten, liefert das materielle Kulturerbe Ostpreußens. Trotz der mehrfachen radikalen Änderungen des politischen Systems und eines umfassenden Bevölkerungsaustauschs erfährt dieses Erbe heute sowohl in Polen als auch in Litauen wieder eine Renaissance – unter anderen Vorzeichen auch im Kaliningrader Gebiet. Weitere Forschungsmöglichkeiten bietet beispielsweise die materielle Kultur Schlesiens, insbesondere die Architektur. Als ressourcenaufwändiges und beständiges Kulturprodukt überdauert sie oft vielfache politische und gesellschaftliche Transformationen. Umnutzung, Umbau und Umdeutung sind hierbei die Regel, Schleifung und Bildersturm eher die Ausnahme.
Auch die verschiedenen Minderheiten in Ostmitteleuropa sowie andere marginalisierte Gruppen schufen sich eigene Räume und waren von den Raumproduktionen der Mehrheitsgesellschaft bzw. der Eliten betroffen. Ausgrenzungsprozesse werden besonders deutlich am Beispiel jüdischer Räume, die über viele Jahrhunderte von christlichen Machthabern vorgegeben und immer wieder entzogen wurden. Während des Zweiten Weltkriegs führten die deutschen Besatzer in Ostmitteleuropa eine präzedenzlose gewaltsame Verdichtung und schließlich Auslöschung jüdischer Räume durch. Die interdisziplinäre Erforschung der Geschichte und Nachgeschichte des Holocausts gehört zu den Feldern, denen die Rezeption des Spatial Turn zuletzt zahlreiche innovative Impulse geliefert hat.
Der Forschungsschwerpunkt möchte zur Auseinandersetzung mit folgenden Themen anregen:
- Longue durées von Regionalisierungsprozessen (Persistenz und Wandel, Verschiebungen, Überlappungen und Konfliktzonen)
- Materielle Kultur und visual history (inkl. Architektur-, Kunst-, Geld- und Wirtschaftsgeschichte) im Spannungsfeld von Region, Religion und Ressourcen
- Marginalisierte Räume (jüdische Räume; geschlechtsspezifische Räume; Subkulturen)
- Umweltgeschichte (ökologische Folgen menschlichen Handelns und deren soziale Rückwirkungen; Rolle von more-than bzw. other-than-human actors)
Warum erscheint das Münzwesen der ersten Piasten im Vergleich mit den benachbarten Regionen Ostmitteleuropas unterkomplex? Was sagen die Qualität und Quantität der Geldproduktion über die Funktionsweise des Staates und die Mechanismen der Herrschaftsausübung aus? Und warum wurden Münzen überhaupt geprägt? Die letzte Frage mag auf den ersten Blick trivial sein, hat aber eine weitaus größere Bedeutung als in den Geisteswissenschaften lange angenommen wurde. Neuere Studien zeigen, dass die Ursprünge der Nutzung von Silber in Mesopotamien nicht unbedingt auf die Entstehung von Märkten zurückzuführen sind. Im Gegenteil: Die Edelmetalle wurden als ein Wertmaßstab innerhalb der Verwaltung von Großhaushalten verwendet und dienten der Erfüllung von Verpflichtungen.
Von dieser übergreifenden Fragestellung ausgehend kontextualisiert das Forschungsvorhaben die räumlichen Entwicklungsunterschiede im Europa des 11.–13. Jahrhunderts und analysiert die Übernahme monetärer Muster aus dem Westen des Kontinents sowie ihren Einfluss auf die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse im piastischen Polen. Dabei stellte die konkurrierende Imitation einen geeigneten Mechanismus dar, Wissenstransfer zu befördern. Hierdurch konnten Herzöge und Könige Kompetenzen akkumulieren, um Einnahmen zu erhöhen und die Herrschaftsausübung in Rivalität mit anderen Souveränen effizienter zu gestalten. Im Projekt wird das Hoheitsgebiet der Piasten nicht nur mit dem römisch-deutschen Reich verglichen, sondern es werden auch weitere Gebiete zwischen Prag und Alt-Lübeck einbezogen.
Im Fokus des Projekts steht der spätsozialistische städtische Raum. Es wird danach gefragt, wie Machtstrukturen und marginalisierte Gruppen in Raum und Zeit interagierten. Dabei gehe ich davon aus, dass städtische Räume die vorherrschenden Werte und die staatlich gewollte soziale Organisation widerspiegeln. Die Studie zeigt, wie staatliche Macht in den Raum projiziert wurde und wie sie ihn kontrollierte.
Sozialistische Städte strebten eine ideale Gesellschaft an, aber die Realität wich von den modernen Planungsideen ab. Das Projekt beleuchtet diese Diskrepanz zwischen den ideologischen Zielen des Sozialismus und der historischen Realität. Ein wichtiges Anliegen ist es zu verstehen, wie Menschen ohne offiziell vorgesehenen Platz im städtischen Raum mit der Staatsmacht in Kontakt traten und auf sie reagierten. In den Blick genommen werden marginalisierte Gruppen wie Prostituierte und queere Menschen, aber auch Personen, die illegalen Handel betrieben. Diese Gruppen entwickelten eigene Strategien, um im städtischen Raum zu überleben und zu agieren. Durch ihre Interaktionen und Konflikte mit den staatlichen Autoritäten wird deutlich, wie soziale Kontrolle durchgesetzt, aber auch, wie widerstanden wurde.
Das Forschungsvorhaben verspricht neue Einblicke in Dynamiken von Machtverhältnissen und sozialen Interaktionen im städtischen Raum. Es trägt zum Verständnis bei, wie ideologische Vorstellungen und praktische Realitäten kollidierten und welche Strategien marginalisierte Gruppen entwickelten, um im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand zu navigieren. Dies erweitert unser Wissen über die sozialen und politischen Mechanismen in spätsozialistischen Städten und ihre weiteren Transformationen.
Das Ermland (poln.: Warmia) bildet eine in gewisser Hinsicht prototypische, dabei aber zugleich sehr spezifische Region. Naturräumlich, ökonomisch und in der Besiedlungsgeschichte unterscheidet es sich wenig von den umgebenden Regionen wie Masuren oder dem nördlichen und westlichen Ostpreußen, in sich ist es jedoch äußerst heterogen. Insofern eignen sich die dort wirksamen Regionalisierungsprozesse besonders zu makro- wie mikrohistorischen Untersuchungen. Besonderes Augenmerk gilt der in der Regionalisierungsforschung einmaligen These einer „Region ohne Region“. Sie geht nicht nur von der Figur einer kulturanthropologisch gebildeten Region aus, sondern von dem Sonderfall, dass der materielle Bezugsrahmen der Regionalisierung, die Rückbindung an einen definierten Raum, durch politische Umbrüche und Zwangsmigration mehrfach stark verändert beziehungsweise sogar zerstört wurde. Die Region Ermland blieb jedoch einerseits als imaginierter Raum, andererseits als materieller Raum mit veränderter Bezugsgruppe und veränderten kulturellen Bezügen erhalten. Das Projekt verspricht neue Erkenntnisse zu den Strukturen der Mentalitätsbildung in Interdependenz zum Raum, die diesem Forschungsfeld neue Impulse geben sollen.
Die willkürliche Grenzziehung zwischen dem späteren Fürstbistum Ermland und dem Deutschordensstaat bewirkte letztlich eine kulturelle Sonderentwicklung, die das Ermland als Region auch unabhängig von der Existenz einer politischen Entität gleichen Namens schuf. Die Auflösung als politische und Verwaltungseinheit 1772 und die Eingliederung in die Strukturen des Königreichs Preußen fielen mit dem Beginn der Epoche des Nationalismus zusammen, als sich in vielen europäischen Regionen neue Identifikationsmuster bildeten – befördert durch die institutionelle Ausbildung der Nationalstaaten. Im Ermland fehlte dieser Katalysator, aber trotzdem entstanden in der Folge eine Selbstbeschreibung sowie eine territoriale Definition des ehemaligen Fürstbistums als natürliche Region, die sich stark von Preußen abgrenzten. Dieses regionale Selbstverständnis war so wirkmächtig, dass es sowohl das Wahlverhalten in der Weimarer Republik und die Haltung zum Nationalsozialismus als auch nach 1945 das Selbstbewusstsein der aus dem Ermland Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland wie auch der neuen polnischen Bevölkerung im ehemaligen Ostpreußen prägten.
Das Projekt setzt sich deshalb ausführlich mit den kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Strukturen und den darauf basierenden Mentalitäten im frühneuzeitlichen Ermland auseinander, um auf dieser Basis die konfrontativen Regionalisierungsprozesse in der „preußischen Zeit“ beschreiben und analysieren zu können. Die Entwicklungen nach dem Umbruch 1945 werden als Weiterentwicklung dieser Regionalisierungsprozesse unter völlig veränderten Vorzeichen betrachtet. Unter anderem durch die außergewöhnliche Longue durée der Regionalisierungsprozesse erweist sich das Ermland als Region, die als Referenzgröße zu Erforschung weiterer Regionen besonders wertvoll ist und den epochenübergreifenden Ansatz des DHI Warschau unterstützt.
Im Rahmen des kunsthistorischen Projektes werden Konventionen und Strategien der repräsentativen Bestrebungen in den Herzogtümern des oberen Odergebietes im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit untersucht. Diese Herzogtümer stellen aufgrund ihrer territorialen Zersplitterung der unterschiedlichen Zweige (hauptsächlich der Piastendynastie) und deren späterer Wiedervereinigung (wegen eines Aussterbens bzw. Wechsels der herrschenden Dynastien) ein interessantes Beispiel dar. Weitere prägende Aspekte waren die wechselnde Konfessionalität und die erneute Durchsetzung des Katholizismus, die noch vor dem Dreißigjährigen Krieg erfolgte.
Die zentrale Forschungsfrage richtet sich auf die Konventionen der hiesigen Eliten-Repräsentationen und der entsprechenden Instrumentalisierung von Kunstwerken. Wie lassen sich höfische Kultur und damit verbundene Strategien des Mäzenatentums in diesen sich dynamisch wandelnden herrschaftlichen Gebilden rekonstruieren? Es ist durchaus zu erwarten, dass sich diese in einem Spannungsfeld von einerseits transregionaler und andererseits regionaler Prägung befanden. Wie genau aber diese Strategien in den einzelnen Herzogtümern aussahen, ist ein Forschungsdesiderat. Untersucht werden unterschiedliche künstlerische Gattungen von Architektur über Malerei und Plastik (insbesondere sepulkrale Plastik) bis hin zu erhaltenen kleineren Kunstgewerbestücken (insofern sich diese mithilfe bildwissenschaftlicher Methoden analysieren lassen).
Im Mittelpunkt des Projekts stehen jüdische Kaufleute auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen in der polnisch-litauischen Rzeczpospolita (von Witebsk und Minsk über Dünaburg bis nach Wilna und Kaunas) während der mehrfachen Teilungsprozesse und der nachfolgenden Periode bis zum Beginn des Eisenbahnbaus. Wie schlugen sich die territorialen Abtrennungen und neuen staatlichen Zugehörigkeiten im Geschäftsgebaren der Kaufleute, ihren Aktivitäten und Beziehungen nieder?
Die Studie behandelt Beispiele der „räumlichen Praxis“ (Henri Lefebvre) und zeigt auf, inwiefern sich die im Alltag hergestellten Handelsräume innerhalb des Untersuchungszeitraums wandelten. Es wird beschrieben, wie sich die Repräsentationen des Raums änderten, also wie und in welchem Maße die nördlichen Gebiete der ehemaligen polnisch-litauischen Rzeczpospolita nun wahrgenommen wurden bzw. inwiefern sich Wahrnehmungen räumlicher Zugehörigkeit allmählich entwickelten. Welche neuen Konfigurationen und Verflechtungen entstanden und welche Reichweite hatten sie?
Ziel des Projektes ist es, das bisherige Narrativ des bruchlosen Übergangs von der polnisch-litauischen Rzeczpospolita zum jüdischen Ansiedlungsrayon zu dekonstruieren und zu überprüfen, ob bzw. wie die im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden jüdischen Akteure den historischen Wandel wahrnahmen und wie sie sich den Herausforderungen der anbrechenden Moderne stellten. Damit wird eine relevante historiografische Lücke geschlossen.
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