Imperiale Neukonfigurationen. Dynamik von Staat und Gesellschaft im „langen“ 19. Jahrhundert


Einleitung

Die Teilungen der Rzeczpospolita unterbrachen eine Phase von Krise und Aufbruch im Königreich Polen und Großfürstentum Litauen. Die Neuordnung der imperialen Machtverhältnisse in Mitteleuropa auf Kosten der Adelsrepublik beendete damit auch die Versuche einer inneren Reform des dezentralen Unionsstaates. Stattdessen erfolgte eine konsequente Eingliederung der polnischen und litauischen Gebiete in die drei Imperien der Teilungsmächte. Wilna, Warschau, Posen und Krakau gerieten zur Peripherie im Verhältnis zu den Zentren in St. Petersburg, Berlin und Wien. Schon nach kurzer Zeit wurde dieser Prozess durch die Napoleonischen Kriege unterbrochen, die ein neues Staats- und Rechtsverständnis in die Region brachten. Der französische code civil wurde zum rechtlichen Fundament der Entwicklung kapitalistischer Produktionsbeziehungen. Zugleich hemmten die Verheerungen der Feldzüge und erneute territoriale Neukonfigurationen wie etwa die kurze Phase preußischer Herrschaft in Warschau, Białystok und Suwałki den wirtschaftlichen Aufbruch in ein neues Zeitalter. In einem langen Prozess, der nach dem Wiener Kongress einsetzte und bis ins frühe 20. Jahrhundert reichte, veränderten sich die drei Imperien zu modernen Staatswesen, die das Zusammenspiel von Staat, Raum und Gesellschaft grundlegend neu definierten.
Im Zuge dieser langfristigen Territorialisierung verstärkten die Teilungsmächte ihre Präsenz in der Fläche, aber auch die Präsenz von Akteuren aus der Peripherie in den Zentren der Imperien nahm zu. Die einzelnen Projekte untersuchen den Zusammenhang zwischen der Modernisierung staatlicher Strukturen und gesellschaftlichen Veränderungen, die in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zum Ausdruck kamen und die sich politisch immer wieder gegen die imperiale Herrschaft richteten. Die daraus resultierenden Konflikte sind anhand der Aufstände im russländischen Teilungsgebiet, der Niederschlagung liberal-nationaler Bewegungen und des sogenannten Kulturkampfs in Preußen sowie der Erkämpfung einer weitreichenden Autonomie durch Galizien innerhalb der Habsburgermonarchie weitgehend erforscht worden. In diesem Forschungsbereich wird die Anfangsphase imperialer Neukonfigurationen im frühen 19. Jahrhundert als Epochenschwelle betrachtet. Die einzelnen Projekte fragen nach der langfristigen Wirkung politischer, ökonomischer und sozialer Prozesse, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen und oft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voll zum Tragen kamen.
Das erste Projekt „Jüdische Handelsräume im Wandel 1772–1850“ nimmt eine Art Tiefenbohrung vor, indem die Aktivitäten jüdischer Kaufleute auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauens analysiert werden. Das Projekt zeigt auf, wie die Kaufleute selbst auf die territoriale Neuordnung reagierten und ihren Teil zu Neukonfigurierung beitrugen, indem sie ihr regionales Handelsnetz auf weite Teile des Russischen Reiches ausdehnten und damit auch ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung in St. Petersburg und Moskau ausbauten. Das zweite Teilprojekt „Panoptikum. Die Geschichte des Strafvollzugs im geteilten Polen-Litauen“ zeichnet nach, wie globale Diskurse über die Reform des Strafvollzugs durch die Teilungsmächte auch in Polen und Litauen die räumliche Gestaltung von Gefängnissen und ihre Nutzung veränderten. Religiöse Praktiken und Arbeit bestimmten den Alltag im Strafvollzug, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft in aufgelassenen katholischen Klöstern stattfand. Ab der Jahrhundertmitte wurden dafür eigens Zellengefängnisse errichtet.


Teilprojekt 1

Jüdische Handelsräume im Wandel 1772–1850

Bearbeiterin: Ruth Leiserowitz

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Im Mittelpunkt stehen jüdische Kaufleute auf dem Gebiet des ehemaligen Großfürstentums Litauen in der polnisch-litauischen Rzeczpospolita (von Witebsk und Minsk über Dünaburg bis nach Wilna und Kaunas) während der mehrfachen Teilungsprozesse und der nachfolgenden Periode bis zum Beginn des Eisenbahnbaus. Wie schlugen sich die territorialen Abtrennungen und neuen staatlichen Zugehörigkeiten im Geschäftsgebaren der Kaufleute, ihren Aktivitäten und Beziehungen nieder?
Die Studie soll Beispiele der „räumlichen Praxis“ (Henri Lefebvre) erbringen und aufzeigen, inwiefern sich die im Alltag reproduzierten Handelsräume innerhalb des Untersuchungszeitraums wandelten. Es wird beschrieben werden, wie sich die Repräsentationen des Raums änderten, also wie und in welchem Maße die nördlichen Gebiete der ehemaligen polnisch-litauischen Rzeczpospolita nun wahrgenommen wurden bzw. inwiefern sich Wahrnehmungen räumlicher Zugehörigkeit allmählich entwickelten. Was für neue Konfigurationen und Verflechtungen entstanden und welche Reichweite hatten sie?
Ziel des Projektes ist es, das Narrativ des bruchlosen Übergangs von der polnisch-litauischen Rzeczpospolita zum jüdischen Ansiedlungsrayon zu dekonstruieren und zu überprüfen, ob bzw. wie die im Mittelpunkt der Untersuchung stehenden jüdischen Akteure den historischen Wandel wahrnahmen. Darüber hinaus sollen Neuverortungen in einem geteilten Raum aufgezeigt werden.


01
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