09.03.2009 „Wer war Gallus Anonymus?“ – Erstes Joachim-Lelewel-Gespräch

Am 12. Februar 2009 fand im Deutschen Historischen Institut Warschau das erste Joachim-Lelewel-Gespräch statt. Das neue Diskussionsforum ist aktuell umstrittenen Fragen aus dem Bereich der polnischen Geschichte gewidmet und führt jeweils Vertreter aus der polnischen, ost- und westeuropäischen bzw. internationalen Geschichtswissenschaft zu einer kontroversen Debatte zusammen.

Das erste Lelewel-Gespräch war der Frage nach der Identität des ersten Chronisten der polnischen geschichte, des so genannten Gallus Anonymus gewidmet. Teilnehmer des Streitgesprächs waren PD Dr. Dániel Bagi (Universität Pécs), Prof. Dr. Johannes Fried (Universität Frankfurt am Main) und Prof. Dr. Tomasz Jasiński (Universität Posen). Einleitend skizzierte der Direktor des DHIW, Prof. Dr. Eduard Mühle, den Forschungsstand über die bislang in der Mittelalterforschung nicht abschließend geklärte Herkunftsfrage des ersten Chronisten Polens. Anschließend trug Prof. Jasiński als erster seine These über die venezianische Herkunft des Gallus Anonymus vor, die auf älteren Arbeiten von Danuta Borawska aufbaut und diese fortführt. Kernstück seiner im Rahmen des Lelewel-Gesprächs vorgetragenen Argumentation ist die textliche Ähnlichkeit der Translatio s. Nicolai, die dem Monachus Littorenses zugeschrieben wird, mit der Chronik des Gallus Anonymus, die Tomasz Jasiński als ein poetisches Werk verstanden wissen möchte. Die Reimprosa, in der die Chronik verfasst ist, insbesondere in der übrigen zeitgenössischen mittelateinischen Literatur verwandte Rhythmussysteme und Satzschlusstechniken (cursus velox sowie der seltene cursus trispondaicus) verweisen gemäß Jasiński auf eine Person aus der Umgebung des Monachus Littorensis oder gar auf diesen selbst, wenn es um die Identifizierung des Gallus Anonymus gehe.

PD Dr. Dániel Bagi warf zu Beginn seiner Ausführungen die prinzipielle Frage auf, was eigentlich genau unter Herkunft eines mittelalterlichen Autors zu verstehen sei, der Geburtstort, der Ort, an dem er seine Ausbildung erhalten habe oder der Ort seines Schaffens. Anhand von bestimmten Merkmalen und Inhalten der Chronik des Gallus Anonymus vertrat er die Auffassung, dass der Verfasser ein Benediktinermönch sei, der im Loiretal ausgebildet wurde, später eventuell im Kloster Saint-Gilles verweilte, und nach 1095 nach Ungarn gelangt und Zugang zum ungarischen Hof sowie zur zeitgenössischen ungarischen Chronistik hatte. Aufgrund seiner Vertrautheit mit den Kulten des Hl. Ägidius und des Hl. Stephan sei er aus Ungarn an den Hof Bolesławs III. berufen worden und habe dort eine Reihe von Nachrichten aus dem ungarischen Kontext in den Text seiner Chronik einfließen lassen.

Gleichfalls inhaltliche Merkmale der Chronik, insbesondere solche, nach denen sich ein Wissenshorizont des Verfassers rekonstruieren lässt, sind für Prof. Fried Hinweise, um eine weitere Möglichkeit zur näheren Identifizierung des Gallus Anonymus zur Diskussion zu stellen: Die Verortung des Gallus im Umkreis Ottos von Bamberg, der dem Chronisten vielleicht auch als Vermittler an den polnischen Hof gedient haben könnte. Der Bildungshorizont des Autors, den Johannes Fried aus verschiedenen Nachrichten der Chronik wie auch aus philologischen Merkmalen rekonstruiert, habe dem entsprochen, was im frühen 11. Jahrhundert zunächst westlich des Rheins und später in Bamberg im Umkreis der dortigen Domschule als Standard angesprochen werden könne.

In der anschließenden Diskussion, in der jeder Autor zu den Thesen der anderen Stellung beziehen sollte, wiederholte Dániel Bagi seine schon andernorts geäußerten methodologischen Einwände gegen die Thesen Tomasz Jasińskis: Bei philologisch-kritischen Textvergleichen dürften die zu vergleichenden Phrasen nicht zu kurz sein, diagnostizierte Ähnlichkeiten könnten allenfalls auf die Existenz von zeitgenössischen Mustern und geschmacklichen Vorlieben zurückzuführen sein, nicht aber zwangsläufig auf eine Identität der Verfasser der verglichenen Texte. Fried, der sich dieser Kritik anschloss, verwehrte sich außerdem gegen eine zu einseitige Verengung auf die von Jasiński untersuchten Textgrundlagen. Auch in Bamberg seien Werke mit zweisilbigem Reim und mit den entsprechenden Satzschlüssen zu finden. Eine umfassende Geschichte zu den rhythmischen Satzschlüssen im Mittelalter stehe zudem noch aus. Auch sei der Text des Gallus nicht durchgehend homogen, was die gereimte Form betrifft. Jasiński erwiderte, dass er mit seinen Untersuchungen noch am Anfang stehe, kündigte darüber hinaus eine bald erscheinende eigene Abhandlung an, in der er klären wolle, welche Passagen in der Chronik – eben aufgrund der abweichenden textlichen Merkmale – vielleicht überhaupt nicht von Gallus stammen könnten.

Gegen die Ausführungen Johannes Frieds wandte Bagi zusammen mit Jasiński ein, dass das Fehlen von Nachrichten aus Deutschland, abgesehen von einem sehr negativ geschilderten Einfall Heinrichs V. in Polen, doch gegen eine Identifizierung des Chronisten mit einem Bamberger Kanoniker spräche. Fried betonte in seiner Entgegnung die Hypothesenhaftigkeit seines Vorschlags, bemerkte, dass ein Bamberger in Polen, der zudem noch eine Auftragsarbeit für den polnischen Herzog ausführte, nicht notwendigerweise über das Reich schreiben müsse. Auch nannte sich Gallus in dem Text selbst ein exul, was im Gegensatz zum peregrinus stärker auf einen erzwungenen Aufenthalt im Ausland hinweise. Selbst im Reich ließen sich zeitgenössische Autoren finden, die kein gutes Licht auf Kaiser Heinrich V. werfen. Gegenüber den Ausführungen Bágis wandte er seinerseits ein, dass Nachrichten über Ungarn nicht notwendigerweise auf einen Aufenthalt oder eine Herkunft aus Ungarn verweisen, da der Chronist den polnischen Herzog offenbar einmal dorthin begleitet habe und in diesem Zusammenhang an Nachrichten gelangt sein könne. Vielmehr sei zu berücksichtigen, in welchen Chronikpassagen der Autor offenbar Kenntnisse aus eigener Augenzeugenschaft verarbeitet habe und welche Rückschlüsse aus diesem konkreten Befund über seine mögliche Identität gezogen werden könnten. Gegen die These Dániel Bagis führte Tomasz Jasiński inhaltliche Merkmale ins Feld wie die Bewertung des Ladislaus und des Kolomans, aber auch linguistische: Die Struktur der slavischen Sprachspuren würde in den dalmatinischen Raum verweisen. Zudem gebe es für die Herkunftsthese aus der Provence, die Bagi von der älteren polnischen Forschung übernommen hat, überhaupt keine Grundlage. Marian Plezia, einer der ursprünglich stärksten Verteidiger dieser Ansicht, gab diese später selbst auf, nachdem er aus Spezialstudien (Borawska, Janson) erfahren hatte, dass in der Provence überhaupt keine Prosa mit zweisilbigem Reim verfasst wurde.

In der lebhaften Diskussion mit dem Publikum wurde manche Frage, die bereits auf dem Podium aufgegriffen war, vertieft. Ergänzt wurde der Hinweis auf die Affinität zur ritterlichen Kultur, die im Werk des Gallus spürbar sei und an die französischen chanson des gestes erinnere. Es gehe um die Konstruktion kultureller Hintergründe, die Frage nach der Identität des Autors sei vielleicht nicht der Schlüssel zum Werk. Natürlich, so Johannes Fried zum Schluss, würde man den Text besser verstehen, wenn man den Autor genau identifizieren könnte, was aber angesichts der Quellenlage letztlich wohl nie gelingen werde. Man könne sich aber der Herkunft des Gallus Anonymus nähern und sie besser verstehen, wenn man sich ansehe, worüber er geschrieben habe.
                                                                              Grischa Vercamer / Maike Sach

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