Das Verständnis von Kindheit und der Konstruktion nationaler Identitäten

Die Kindheitsgeschichte in Mittel- und Osteuropa vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs ist ein noch weitgehend unerforschtes Thema. Nun wurde sie Gegenstand einer Tagung der DHIW-Außenstelle Vilnius, die vom 16. bis zum 17. Juni 2022 stattfand. Tagungsort war ein Hotel im Zentrum der Stadt, durchgeführt wurde die Veranstaltung aufgrund der Covid-19-Pandemie im hybriden Format.

Die aus Litauen, Deutschland, Polen, Österreich, Frankreich, Israel, Rumänien und Armenien angereisten Vortragenden näherten sich dem Tagungsthema über eine historische Dimension an, mit dem Fokus auf transnationalen und imperialen Kindheitserfahrungen, der allgemeinen Bildungsgeschichte sowie der Politisierung der Kindheit. Durch den Einbezug der Kategorie „Kindheit‟ in die historische Forschung versuchte die Konferenz neue Einblicke in verschiedene historische Ereignisse und Prozesse zu geben.

Im Eröffnungsvortrag stellte Ruth Leiserowitz (DHIW) osteuropäische Kindheitsräume vor: Das Dorf, das Kinderzimmer, den Klassenraum sowie Lese- und Schreibräume beschrieb sie als wichtigste Räume der Kindheit im 19. Jahrhundert. Quellen, wie die Erinnerungen von Max Salzberg, der seine Kindheit und Jugend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Kaunas verbrachte, eröffneten zudem Einblicke in ostjüdische Kindheitswelten.

Das erste Panel war transnationalen Kindheiten und imperialen Identitäten gewidmet. Jonathan Singerton (Innsbruck) referierte über die habsburgische Kindheit an den Höfen in Wien und Neapel-Sizilien (1790-1830). Anhand des erhaltenen umfangreichen Briefwechsels zeigte der Vortragende, dass adelige Kinder im Zeitalter der Revolution als einflussreiche Vermittler zwischen Staaten dienten. Katharina Kucher (Regensburg) analysierte in ihrer Präsentation die russische aristokratische Kindheit. Sie wies darauf hin, dass sich diese Kindheit aus den allgegenwärtigen fremden Einflüssen einerseits und der russischen Umwelt und Sozialisation andererseits konstituierte. Damit werde, so die Historikerin, ein bestimmter Kindheitstyp markiert, der sich zum Ende des 18. Jahrhunderts im russischen Imperium herausbildete. Anschließend sprach Hugo Tardy (Toulouse) über die Bedeutung der Büste von Pawel Petrowitsch für den Aufbau der russischen imperialen Identität. Er legte dar, wie solche Kunstwerke die Vorstellung von Kinderdarstellungen in der russischen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts prägten.

Im zweiten Panel wurden die Themen „Staat“, „Kindererziehung“ und „Kinderfürsorge“ thematisiert. Jolita Mūlevičiutė (Vilnius) beschäftigte sich mit der Schulreform und der Berufsausbildung in der nordwestlichen Region des Russischen Reiches, die zur Herausbildung einer neuen transnationalen Generation moderner imperialer Arbeiter beitragen sollte. Ágoston Berecz (Budapest) berichtete über die staatliche Instrumentalisierung von Kindergärten, welche zwischen 1891 und 1914 als Institutionen der Magyarisierung im dualistischen Ungarn dienten. Der Beitrag von Aelita Ambrūlevičiūtė (Vilnius) behandelte die Kindersterblichkeit im spätimperialen Russland.

Den zweiten Tagungsteil eröffnete Anja Wilhelmi (Lüneburg) am Freitag. Sie gab Einblicke in die Geschichte der Familie Wittram und die Bildungserfahrungen dreier Generationen im Russischen Reich. Sie erläuterte, dass es aus Sicht vieler estnischer Familien auf dem Land lange als wichtiger gegolten habe, seine Kinder in Haushalt und Landwirtschaft zu integrieren als sie zur Schule zu schicken. Schulbildung sei häufig aus finanziellen Gründen abgelehnt worden. Sie sei als Inbegriff der Individualisierung angesehen worden, welche die Gefahr sozialer und kultureller Entwurzelung in sich berge. Hauptquelle für den Vortrag von Uladzimir Karalenak (Nieborów) waren Briefe von Kindern der fürstlichen Familie Radziwill an ihre Eltern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihm zufolge offenbaren diese Briefe die innere Welt des Kindes und liefern eine Fülle von Informationen über die Spiele der kleinen Aristokraten, ihre Beobachtungen, Studien und andere Aktivitäten.

Das vierte Panel drehte sich um jüdische Kindheit in der Zwischenkriegszeit. Ekaterina Oleshkevich referierte über die Ausprägung jüdischer Identität durch die Disziplinierung von Kindern. Diese sei ihrer Erkenntnis nach durch Kennzeichnungen von Kindern als „nicht-jüdisch“ oder „christlich“ erfolgt, was synonym als „fremd‟ oder „gefährlich‟ verstanden worden sei. Angewandt worden sei diese Taktik, um ein aus Sicht der Erwachsenen „richtiges“ jüdisches Verhalten zu stärken.

Maria Antosik-Piela sprach anschließend über die Rolle der Kinder in der jüdischen Nationalbewegung in Polen vor 1939. Wie sie abschließend erklärte, hätten die zionistischen Journalisten und Schriftsteller mit ihren Vorkriegsaktivitäten einen bedeutenden Einfluss auf junge Jüdinnen und Juden gehabt, die vor 1939 als junge Erwachsene aus Polen nach Palästina auswanderten und später als „neue Juden‟ den neuen Staat Israel aufbauten.

Die fünfte Sektion wurde durch die Präsentation von Artemis Yagou (München) eröffnet. In ihrem Beitrag veranschaulichte die Referentin, wie Baukästen als Medium für die soziale und politische Indoktrination dienten. Ihre Argumente illustrierte sie mit verschiedenen Beispielen von Spielzeug aus Mittel- und Osteuropa Anfang des 20. Jahrhunderts, darunter Spielzeug aus dem kommunistischen Russland und dem nationalsozialistischen Deutschland. Jugendliche, die die staatliche Kontrolle im Rumänien der Zwischenkriegszeit anfochten, waren Gegenstand des Vortrags von Anca Filipovici (Cluj-Napoca). Ihr Hauptargument war, dass das moderne Disziplinierungsinstrument, das von rumänischen Behörden (durch Schulen und Jugendorganisationen) auf Jugendliche angewandt wurde, verschiedene Formen des Ungehorsams hervorgebracht habe. Anschließend gab Leonas Nekrašas (Vilnius) einen Einblick in seine Recherchen zur litauischen Pfadfinderbewegung und zeigte, dass diese Bewegung und deren Mitglieder in der Zwischenkriegszeit für die Nationalisierung des litauisch-polnischen Grenzgebiets instrumentalisiert worden seien.
Das sechste und letzte Tagungspanel widmete sich den Themen „Nation-Building“ und „Waisenhäuser“. Elodie Gavrilof (Jerewan) klärte über die Ausbildung armenischer Waisenkinder und den Wiederaufbau des Landes im Jahr 1918 und 1923 auf. Ihren Recherchen zufolge hätten Kinder eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung des Landes gespielt. In der Zwischenkriegszeit hätten Waisenhäuser eine neue Bedeutung erhalten und als Instrument der Außenpolitik der alliierten Mächte gedient. Die Suche nach einem „normalen“ Kind und die Kategorien „Klasse‟, „Körper‟ und „Disziplin‟ im Kontext der Litauischer Waisenhäuser in der Zwischenkriegszeit wurde von Andrea Griffante zur Diskussion gestellt. Die Waisenhäuser, so Griffante, seien zu Disziplinierungsinstrumenten für Waisen-, Findel- und mittellose Kinder geworden, denen man eine natürliche Tendenz zu moralischer und körperlicher „Defekthaftigkeit‟ unterstellt habe.


Die Tagungsbeiträge und die Abschlussdiskussion gaben einen Überblick über die unterschiedlichen methodischen Zugänge und wissenschaftlichen Fragen, die an das Thema Kindheit herangetragen werden können. Deutlich wurden dabei auch die folgenden Forschungsfragen und Herausforderungen: Wie können wir durch die vorhandene Quellenbasis, oftmals subjektive Ego-Dokumente, die Stimme von Kindern anstatt von Erwachsenen erhalten? Was können wir aus den Studien über die Kindheit lernen, was wir nicht durch einen anderen historischen Ansatz und ein anderes Thema lernen könnten? Während der Konferenz wurde deutlich, dass eine Trennung zwischen west- und osteuropäischen Kindheiten in der Analyse unmöglich ist. Getrennt voneinander analysiert werden könne lediglich das Phänomen Kindheit in ländlichen im Vergleich zu städtischen Umgebungen.

01
lut
Wystawa Dyskusja panelowa
Ausstellung: Bericht aus der belagerten Stadt Tschernihiw
Czytaj więcej