Bericht aus der belagerten Stadt Tschernihiw
Als Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 angriff, gehörten die Einwohnerinnen und Einwohner Tschernihiws zu den ersten Betroffenen. Die alte Stadt der Kiewer Rus am Fluss Desna, nahe der Grenze zu Belarus und Russland, spielt eine Schlüsselrolle bei der Verteidigung Kiews, zumal sie den Zugang zur Hauptstadt von Osten und Nordosten her blockiert. Um Kiew einzunehmen, konnten die russischen Streitkräfte Tschernihiw nicht umgehen. 38 Tage lang versuchte das Militär erfolglos, die Verteidigungsanlagen der Stadt zu durchbrechen. Sie beschossen diese und taten alles dafür, eine humanitäre Katastrophe herbeizuführen. Doch der ukrainische Widerstand hinderte sie daran. Den Kern der militärischen Verteidigung Tschernihiws und der umliegenden Gebiete bildete die 1. gepanzerte Elitebrigade „Siverska“. Die in der Stadt ausharrende Zivilbevölkerung half sich gegenseitig und auch der Armee durchgehend. Jene, die die Stadt verlassen hatten, organisierten humanitäre Hilfe aus verschiedenen Regionen der Ukraine und aus dem Ausland.
Die Ausstellung ist ein fotografischer Bericht, eine chronologische Aufzeichnung aus den ersten Kriegstagen in Tschernihiw. Derzeit werden in der Stadt, die langsam wieder zum Leben erwacht, Verluste in Milliardenhöhe dokumentiert. Über 600 km Straße und 16 Brücken wurden in der Region Tschernihiw zerstört. Nach ersten Schätzungen kann der Wiederaufbau der Stadt und ihres Umlands bis zu 50 Jahre dauern.
Valentyn Bobyr und Vladyslav Savenok dokumentierten den russischen Angriff auf ihre Heimatstadt von Beginn an. Fotos von zerbombten Wohnhäusern, Bildungseinrichtungen und Sportanlagen, kulturellen Institutionen sowie lokalen Verwaltungsstellen lieferten die Inspiration für diese Ausstellung.
Aufgrund der einzigartigen architektonischen Denkmäler in diesem Teil Europas, deren Geschichte bis in die Zeit der Kiewer Rus zurückreicht, war die 300.000-Stadt Tschernihiw vor dem Angriff ein Touristenmagnet für Menschen aus dem In- und Ausland. Einige der mittelalterlichen Sakralbauten sind erhalten geblieben: die Kirche St. Paraskieva, die Kathedrale St. Boris und Glib sowie die Verklärungskathedrale. Durch den russischen Beschuss wurden unter anderem Schulen, Bibliotheken und die Skistation des ukrainischen olympischen Biathlon-Teams zerstört. Am 6. März 2022 verlieh der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky Tschernihiw den Titel einer Heldenstadt.
Der Einmarsch der russischen Armee in die seit über 30 Jahren unabhängige Ukraine erzeugte eine starke Reaktion der westlichen Staaten. Die internationale Gemeinschaft verhängte Sanktionen gegen den Aggressor und leistet humanitäre Hilfe für die unter dem Krieg leidende Zivilbevölkerung. Darüber hinaus initiierten wissenschaftliche Einrichtungen Stipendienprogramme für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aufgrund des anhaltenden Krieges nicht mehr vor Ort forschen können. Zu diesen Institutionen zählt auch das Deutsche Historische Institut Warschau (DHI), das am 1. April 2022 das Projekt „Forschungsperspektive Ukraine“ gestartet hat. Neben dem dort bereits bestehenden Stipendienprogramm wurde dadurch ein weiteres geschaffen, das ukrainischen Forschenden einen Aufenthalt am Institut ermöglicht.
Einer der DHIW-Stipendiaten ist Dr. Volodymyr Pylypenko, ein Historiker mit Universitätsabschluss der Staatlichen Pädagogischen Universität Tschernihiw. Seine Heimatstadt ist sowohl Ort für seine wissenschaftlichen als auch für seine außerakademischen Aktivitäten. Der Stipendiat stellte dem DHI Warschau Fotos zweier Fotografen aus Tschernihiw zur Verfügung.
Valentyn Bobyr - Fotograf, Wissenschaftler, Freiwilliger
Valentyn Bobyr wurde 1983 in Tschernihiw geboren. Sein Studium an der Nationalen Pädagogischen Taras-Schewtschenko-Universität Tschernihiw beendete er mit einem Abschluss in Physik. Parallel zu seinem Studium und seiner Arbeit im regionalen Staatsarchiv entwickelte er seine Leidenschaft für Fotografie. Seine Fotos illustrieren Berichte in Zeitungen, Büchern und Internetportalen. Darüber hinaus kooperiert Bobyr mit dem Touristeninformationszentrum in Tschernihiw. Nach dem bewaffneten Angriff Russlands auf die Ukraine dokumentierte er die Zerstörung seiner Heimatstadt auf professionelle Weise.
Vladyslav Savenok - Journalist, Schriftsteller, Fotojournalist
Vladyslav Savenok wurde 1959 im Dorf Liski in der Region Tschernihiw geboren. Er absolvierte die Fakultät für Journalismus an der Staatlichen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Als Journalist für lokale Medien in Tschernihiw erstellte er Berichte über das Leben in der Region Tschernihiw für den ukrainischen Dienst der BBC, den russischen Fernsehsender RTR, und eine Reihe ukrainischer Fernsehsender. Savenok war Mitbegründer der Taras-Schewtschenko-Regionalvereinigung für die ukrainische Sprache und der Tschernihiwer Literaturunion sowie Sekretär der Zeitschrift „Literaturnii Chernigiv“. Vladyslav Savenok wurde vom Tschernihiwer Medienklub als „Journalist des Jahres 2000“ ausgezeichnet.
Die Ausstellung kuratierten:
Beata Jurkowicz
Kinga Wołoszyn-Kowanda
Volodymyr Pylypenko
graphisches Design
Lech Rowiński (Beton)
Produktion
Deutsches Historisches Institut Warschau
In Kooperation mit der Warschauer Wirtschaftshochschule SGH