„Après mai“ (Die wilde Zeit), F 2012

Filmvorführung

Sa. 10.03.2018 | 18:00 Uhr
Prof. Dr. Magdalena Saryusz-Wolska
Warschau

Im Rahmen der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

122 Min., Regie: Olivier Assayas

Ort: Kino Iluzjon
Der Film wird im Original mit polnischen Untertiteln gezeigt.

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

 

Zum Film:

Die wilde Zeit (OT: Après mai)

Die ersten Worte des Films sind Ausschnitte aus den „Gedanken“ von Blaise Pascal, die in einer Schulstunde gelesen werden. Die philosophischen Überlegungen zur Zerbrechlichkeit des Daseins sind ein atypischer Kontext für eine Erzählung über die Zeit der Auflehnung und der Hippiekultur. Der Film ist eher eine intime Coming-of-Age-Geschichte als die Darstellung der Revolution von 1968. Die Handlung spielt einige Jahre nach jenem denkwürdigen Mai, aber die Aura jener Tage wirkt immer noch nach. Die Hauptfigur ist Gilles, ein kleinbürgerlicher Gymnasiast aus der Pariser Vorstadt. In „Die wilde Zeit“ wird sein schrittweiser Übergang in das Erwachsenenalter in den 1970er Jahren gezeigt, der spannende Wandel von seiner enthusiastischen Beteiligung an den Protesten über die Neubewertung dieser kämpferischen Einstellung bis hin zur Entwicklung einer individuellen Haltung, in der nunmehr die Kunst als ein Werkzeug der Revolution und Instrument zur Herbeiführung eines Bewusstseinswandels eine zentrale Stellung einnimmt. Auf seinem Weg erlebt Gilles die Kultur jener Zeit in all ihrer Vielfalt. Der Film rekonstruiert die Epoche mit großer Präzision und einem Gefühl für die kleinsten Details. Der Protagonist ist zwischen zwei Frauen hin- und hergerissen: einer in einem revolutionären Filmkollektiv engagierten, kämpferischen Aktivistin und einem märchenhaften Hippiemädchen, das sich aus der Wirklichkeit in Drogen und Hedonismus flüchtet. Ähnliche Spannungen prägen den Freundeskreis, wo ihn die ihn einen in den Sabotagekampf, die anderen in die Welt der Kunst hineinziehen möchten. Intelligent in die Handlung eingeflochten sind knappe Gespräche, durch die sich Gedanken zu zeitgenössischer und Avantgarde-Kunst, zu revolutionären filmischen Formen, zur Situationistischen Internationale oder auch zu den Verbrechen der Kulturrevolution in China ziehen. Das Klima der Epoche wird untermalt durch leichte, suggestive Musik. (Text: Karol Jóźwiak)

 

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

 

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