„Vtáčkovia, siroty a blázni“ (Vögel, Waisen, Narren), ČSSR 1969

Filmvorführung

Sa. 03.03.2018 | 18:00 Uhr
Prof. Dr. Magdalena Saryusz-Wolska
Warschau

Im Rahmen der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

82 Min., Regie: Juraj Jakubisko
Ort: Kino Iluzjon
Der Film wird im slowakischen Original mit polnischen Untertiteln gezeigt.

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

Zum Film:

Vtáčkovia, siroty a blázni (Vögel, Waisen und Narren)

„Diese Geschichte endet schlecht, aber das soll euch nicht vom Lachen abhalten, denn die Helden dieses Films lachen bis zum letzten Moment.“ Diese einleitenden Worte des Regisseurs zu seinem Film lassen sich nicht nur auf die filmischen Helden beziehen, sondern auch auf die tschechoslowakische Gesellschaft nach 1969, für die damals die schwere Zeit der „Normalisierung“ begann. Der Film war in den ersten Monaten nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei in großer Eile gedreht worden. In einer Atmosphäre, in der sich die alte Welt dem Ende zuneigte und eine neue, spürbar schlechtere Wirklichkeit begann, dokumentiert der Film die aus dem Geist der Hippiebewegung erwachsenden Versuche des Widerstands. Es entstand ein Werk, das ungewöhnlich farbenfroh, originell und intellektuell provozierend war und zugleich mit zahlreichen cineastischen Bezüge aufwartet, wie der Tanzszene auf einem Haufen alter Zelluloidstreifen oder der Parodie der Protagonisten auf die Eingangssequenzen verschiedener Filme. Das Leitmotiv des Films ist die Ruine: Die Protagonisten leben in einer zerstörten Kirche, und auch sie selbst scheinen verletzt und beschädigt durch die Erfahrungen des Krieges. In dieser Ruinenwelt ist die einzige feste Größe der titelgebende Wahnsinn als eine Insel der Freiheit. Das Schicksal der Protagonisten wirft die Frage nach den Grenzen der Freiheit auf: Ist die Suche nach eigener Erfüllung zuweilen nicht destruktiv für uns und unser Umfeld? Der Film als „ein von Nihilismus infiziertes und gesellschaftliche – nicht nur sozialistische – Werte negierendes Werk“ kam nicht in den Verleih. Seine verspätete Premiere in Karlovy Vary (Karlsbad) 1990 brachte ihm den FIPRESCI-Preis und den verdienten Platz im Pantheon der Meisterwerke der Neuen Welle im tschechoslowakischen Film ein. (Text: Ewa Ciszewska)

 

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

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