Das Verhältnis der Ukraine zu Polen und Belarus. Historische Determinanten und Problemfelder nach der EU-Osterweiterung

Conference

Do. 17.06.2004 | 15:30 -
Sa. 19.06.2004 | 14:00 Uhr
Lemberg

Vom 17. bis 19. Juni fand in Lemberg unter der Leitung von Klaus Ziemer (Warschau) die diesjährige Fachtagung der DGO-Fachgruppe Politikwissenschaft in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut Warschau statt. Bewusst war im Gefolge der EU-Osterweiterung Lemberg als Tagungsort gewählt worden, das sich nun auf der "anderen Seite" der neuen EU-Ostgrenze wiederfindet.

Botschafter Dietmar Stüdemann (Kiev) bemerkte zur Einführung, dass die beeindruckende Architektur der alten Lemberger Bürgerhäuser nicht mehr unbedingt prägend für die Haltung der heutigen Stadtbevölkerung zu vielen Fragen sei. Wichtigstes Ereignis in der Ukraine seien die anstehenden Präsidentschaftswahlen, die jedoch weniger "schicksalhaft" als oft angenommen seien, da die Zukunft des Landes stärker durch wirtschaftliche als durch politische Akteure bestimt sei. Es stelle sich ferner die Frage, ob die ukrainischen Erwartungen an Polen nach dessen EU-Beitritt "realistischer" geworden seien. Der Ukraine könne als Brücke zwischen Belarus und der EU eine neue Rolle zuwachsen, die das Regime in Minsk aus der Isolation herausführen könne. Im Hinblick auf Russland gab der Botschafter abschließend zu bedenken, dass die Ukraine nicht nur eine Funktion im Verhältnis zwischen Moskau und Brüssel einnehmen dürfe.

Zum Thema der polnisch-ukrainischen Beziehungen 1918-1989 wies Bogumiła Berdychowska (Warschau) darauf hin, dass die Ukrainer als einziges großes Volk in Ostmittel- und Osteuropa nach 1918 keinen eigenen Staat gründen konnten. Die Auseinandersetzungen bis 1939 und insbesondere die Ereignisse im Gefolge des Zweiten Weltkrieges zwischen 1943 und 1947 (Bürgerkrieg und Vertreibung der Polen aus Wolhynien, Galizien und Podolien, "Aktion Weichsel" in Polen) hätten gezeigt, dass eine friedliche Koexistenz nicht möglich gewesen sei. Da es bis 1989 keinerlei polnisch-ukrainischen Dialog über die Vergangenheit gegeben habe, sei es bemerkenswert und vor allem ein Verdienst der polnischen und ukrainischen Emigration, dass die Beziehungen 40 Jahre nach Kriegsende nicht mehr vergiftet gewesen seien. Sebastian Gerhardt (Berlin) wies in seinem Beitrag zu den polnisch-ukrainisch-belarussischen Beziehungen seit 1989 darauf hin, dass die Kontakte zwischen der Ukraine und Polen seit 1989 die sicherlich intensivsten gewesen seien. Den guten Beziehungen auf höchster Ebene stünden jedoch Kernprobleme in mehreren Politikfeldern entgegen: Das beiderseitig verübte Unrecht habe sich in den Köpfen hartnäckiger festgesetzt als man dachte, der Wirtschaftsaustausch sei aufgrund der geringen Komplementarität der Volkswirtschaften nur gering und Minderheitenfragen seien nach 1989 auf eine neue Grundlage gestellt worden, ohne aber zur vollständigen Zufriedenheit gelöst worden zu sein. Jedoch habe Polen zumindest erfolgreich ein modifiziertes Visumregime für Ukrainer auch nach dem EU-Beitritt durchgesetzt.

Im Anschluß daran stellte Klaus Ziemer die Frage, ob die Kirche in den polnisch-ukrainischen Beziehungen eine ähnlich vermittelnde Rolle übernehme wie im deutsch-polnischen Kontext seit den sechziger Jahren. Olej Turij (Lemberg) stellte die aktuelle Kirchenspaltung in der Ukraine in zumindest fünf Teile vor (ukrainisch-orthodox Kiever bzw. Moskauer Patriarchat, autokephal, griechisch-katholisch, römisch-katholisch). Die Konfliktlinien verliefen jedoch nicht zwischen "orthodox" und "katholisch", sondern hauptsächlich zwischen den orthodoxen Glaubensgemeinschaften. 60% der Ukrainer seien nach Umfragen "gläubig", wobei jedoch der Anteil der Anhänger der Freikirchen zunehme.

Der zweite Tag der Konferenz führte zunächst auf den Lemberger Lyčakiv-Friedhof, wo das seit Jahren zwischen Polen und der Ukraine umstrittene Denkmal für die jugendlichen polnischen Verteidiger (Orlęta) Lembergs von 1918 noch immer nicht fertiggestellt ist. Das Gespräch mit dem Friedhofsdirektor ergab insbesondere, dass seit 1989 viel zum Wiederaufbau der Gedenkstätte getan wurde, aber die historiographischen Sichtweisen auf Details noch immer stark differierten. Beide Seiten können sich trotz Einschaltung selbst der Staatspräsidenten nicht auf eine Version für eine Inschrift auf dem genannten Denkmal einigen. Es folgte nachmittags ein Gespräch mit dem Chefredakteur der (überwiegend aus Mitteln der Böll-Stiftung und westlicher Botschaften finanzierten) Zeitschrift "Ji", Taras Voznjak. Er betonte die Souveränität der Ukraine, äußerte sich kritisch zur Rolle der EU und Rußlands gegenüber seinem Land und warnte, dass Russland das Projekt eines Imperiums unter Zuhilfenahme der Abhängigkeit vieler GUS-Republiken von russischen Energielieferungen noch nicht begraben habe. Die Ukraine sei heute in erster Linie ein Spielball dritter Mächte. Beim abendlichen Gespräch mit dem Vize-Gouverneur der oblast' Lemberg, Volodymyr Geryč, cahrakterisierte dieser die neuen Visa-Regeln der EU für Ukrainer als Belastung und hob die Rolle seines Landes bei der Bekämpfung illegaler Migration in die EU hervor. Das polnische Generalkonsulat in Lemberg stelle täglich 1.000 Visa aus, wobei nach der Visaeinführung die Zahl der Grenzübertritte um 40% zurückgegangen sei. Bereits 150.000 bis 180.000 Ukrainer lebten legal oder illegal in Westeuropa, vor allem in Polen, Portugal, Italien, Spanien und Deutschland. Er zeigte sich ferner hoffnungsvoll zu den deutschen Anlageinvestitionen in der Ukraine; diese hätten bereits heute 2.000 Arbeitsplätze allein in der oblast' Lemberg geschaffen.

Den dritten Tag der Konferenz leitete Alfred Spröde (Münster) mit einem Referat zu historischen Phasen von Fremdbildern und gemeinsamer Gedächtnispolitik in Polen und der Ukraine ein: Nach einem ersten Abschnitt der Feier der Inkorporierung des ruthenischen Adels in die Rzeczpospolita in der polnischen Geschichtsschreibung, sei nach der Lubliner Union (1595/96) auf polnischer Seite insbesondere das Bild des Ukrainers als "gestikulierender Dorf-Demagogen" sowie als "bellender Hund, der aus dem Hof der Rzeczpospolita vertrieben werden müsse", kolportiert worden. Die Gründung der orthodoxen Kiever Mohilev-Akademie habe dem erste Gegenbilder entgegengesetzt. Mit der Inkorporierung des Hetmanats in das Russische Reich (ab 1654) sei durch die Aufstiegs-Assimilation der ukrainischen Eliten nach Moskau das Bild eines "sprachlosen Ukrainers" entstanden, der auf dem Land zurückbleibt. Die Mythologisierung der Hajdamaken in der polnischen und ukrainischen Geschichtsschreibung als Räuber oder Freiheitskämpfer schufen weitere unterschiedliche Wahrnehmungen. Im 19. Jahrundert verstärkten die romantischen Werke von Ševčenko (Hajdamaky, 1842) einerseits sowie Słowacki ("Traum der silbernen Salomé") und Sienkiewicz (Trilogie) andererseits diese Strömungen. Auf Versöhnung angelegte Bilder (etwa Vernychora-Legende) spielten dagegen eine weit geringere Rolle. Die kresy-Literatur der Zwischenkriegszeit und die Nachkriegswerke konservierten im wesentlichen nur den bestehenden Zustand. Ein "Gegenmythos" können jedoch etwa auf den Lemberg-Bildern von Jurij Andruchovyč sowie der polnischen Kultura und der ukrainischen Kritika aufbauen. Die deutsch-polnische Literatur der letzten 30 Jahre (Grass, Huelle für Danzig, Bieniek für Schlesien) könne hier ein Vorbild für die polnisch-ukrainische Literatur sein. Peter Hilkes (Berlin) sprach in seinem Vortrag zum heutigen ukrainischen Bildungssystem von einer "neuen Unübersichtlichkeit". Neben neuen Strukturen existiere eine sowjetischen Lehr- und Lernkultur und ebensolche Lehrplaninhalte. Jedoch seien die Schulen überall von einer starken Förderung der ukrainischen Sprache, Kultur und Geschichte geprägt, die Hochschulen hätten Studiengebühren in Höhe von 400 bis 900 € (je nach Fach) pro Semester eingeführt. Die Diaspora habe einen nur geringen Einfluss auf das Bildungssystem. Abschließend folgte eine Podiumsdiskussion zwischen Hans-Jürgen Heimsoeth (Auswärtiges Amt), Piotr Świtalski (polnisches Außenministerium) und Valerij Ivaško (ukrainisches Außenministerium). Alle drei Seiten äußerten deutlich, dass der Ukraine eine herausgehobene Rolle in der Region zukomme. Heimsoeth machte darauf aufmerksam, dass die Ukraine zuletzt zu große Erwartungen an die EU hatte. Das Verhältnis zwischen Kiev und Brüssel bleibe "auf Zeit teilintegriert". Wichtig seien nun insbesondere "Kriechströme" (Karl Schlögl), um Europa die Bedeutung der Ukraine ins Bewusstsein zu rücken. Świtalski gab zu bedenken, dass Osteuropa nicht mehr durch das Prisma "Moskau" gesehen werden dürfe. Russland sei keinesfalls der natürliche Partner für Moldawien, die Ukraine und Belarus. Die einzige Chance für diese Staaten sei vielmehr die Integration in euroatlantische Strukturen. Warschau werde in Brüssel verstärkt für eine NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine sowie für ein verbessertes Konzept der "Neuen Nachbarschaft" der EU werben. Kiev müsse jedoch zeigen, dass es zu NATO und EU gehören wolle. Ivaško betonte, dass die Ukraine nicht vom euroatlantischen Kurs abweiche. Man sei einerseits zur Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen mit Moskau "verurteilt", sehe andererseits die polnisch-ukrainische "strategische Partnerschaft" als wichtigstes Resultat des neuen Europas.

Klaus Ziemer schloss die Tagung mit der Bemerkung, dass viele Fragen offenbleiben würden. Dass Geschichte eine Ressource für eine gemeinsame Zukunft sein könne, sei jedoch an der Stadt Lemberg exemplarisch deutlich geworden.

Programme

Donnerstag, 17.06.2004
Anreise

15.30 Uhr
Einführung
PROF. DR. KLAUS ZIEMER, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau

15.45 Uhr
Die polnisch-ukrainischen Beziehungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihre Auswirkungen auf das Verhältnis beider Länder heute
PROF. DR. BOGUMIŁA BERDYCHOWSKA, Warschau

16.15 Uhr
Die polnisch-ukrainisch-belarussischen Beziehungen nach 1989 - eine Einführung
DR. SEBASTIAN GERHARDT, Auswärtiges Amt, Berlin

16.45 Uhr
Kaffeepause

17.00 Uhr
Die Rolle der Kirchen im Verhältnis zu den polnischen und weißrussischen Nachbarn: Brücken oder Spaltpilze?
DR. OLEH TURIJ, Direktor des Instituts für Kirchengeschichte an der Katholischen Universität Lemberg, Lviv

18.30 Uhr
Abendessen

20.00 Uhr
Gemeinsame Wurzeln - gemeinsame kulturelle Identität in Europa?
Exkursion durch das historische Zentrum von Lemberg
JURI DURKOT, Journalist, Lviv

Freitag, 18.06.2004

9.00 Uhr
Ukrainisch-polnische Vergangenheitsbewältigung? Der Streit um das Denkmal für die "polnischen Jungadler"
Besuch auf dem Lytschakiw-Friedhof/Gespräch mit DR. IHOR HAWRYSCHKEWYTSCH, Direktor des Museums "Lytschakiw-Friedhof", Lviv

13.00 Uhr
Mittagessen

14.30 Uhr
Besuch in der Redaktion "JI"
Der EU-Beitritt und die Haltung der Bevölkerung in der Region
TARAS WOZNIAK, Chefredakteur, Lviv

17.00 Uhr
Ökonomische und rechtliche Konsequenzen des EU-Beitritts für den Handel zwischen der Ukraine und Polen
OLEKSANDER SENDEHA, Gouverneur des Gebiets, Lviv

Samstag, 19.06.2004

9.00 Uhr
Vom Konflikt der Fremdbilder zur gemeinsamen Gedächtnispolitik: Ukrainisch-polnische Kulturbeziehungen in europäischer Perspektive
PROF. DR. ALFRED SPROEDE, Slavisch-Baltisches Seminar, Universität Münster

9.40 Uhr

Bildung und Erziehung in der Ukraine zwischen Tradition und Europäisierung

PETER HILKES, Leiter des Büros forumNET.Ukraine, Berlin

10.30 Uhr
Kaffeepause

11.00 Uhr
Polens Rolle für die künftige Ostpolitik der EU und ukrainische Erwartungen
Podiumsdiskussion mit
DR. HANS-JüRGEN HEIMSOETH, Auswärtiges Amt, Berlin
PIOTR ŚWITALSKI, Leiter des Planungsstabs, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Polen, Warschau
JURIJ HONTSCHARUK, Leiter des Planungsstab, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Ukraine

12.30 Uhr
Mittagessen

Ende der Tagung / eventuell Besuchs-/Kulturprogramm/Exkursion in die Umgebung

04
Apr
Ausstellung
Bilder des Krieges: Fotoausstellung „Bericht aus der belagerten Stadt Tschernihiw“ in Jena
Mehr lesen