Dr. Bethan Winter: On Great Men and Geniuses: Between Exceptionalism and Egalitarianism in Marxist Thought and Socialist Policies in 20th Century Europe

Vortrag

Mo. 19.05.2025 | 17:00 Uhr
Vilnius

Dieser Vortrag untersucht die anhaltende Spannung im sozialistischen und marxistischen Denken zwischen den kollektivistischen Grundlagen des historischen Materialismus und der anhaltenden kulturellen Faszination für einzelne Helden und Genies. Ausgehend von der konzeptionellen Entwicklung von den frühen modernen Denkern (Hobbes, Locke, Rousseau) über die Aufklärung bis hin zu romantischen Vorstellungen von Genialität (Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche) auf und zeigt, wie marxistische Denker wie Marx, Engels, Plechanow, Lenin, Trotzki, Lukács und Zilsel sich mit der „Theorie der großen Männer“ und der bürgerlichen „Geniereligion“ auseinandersetzten und diese kritisierten. Trotz ausdrücklicher Warnungen von Theoretikern wie Zilsel vor Heldenverehrung und der Erhebung von Individuen über das Kollektiv entwickelten sozialistische Staaten systematisch ihre eigenen säkularen Pantheons aus revolutionären Führern, Künstlern, Wissenschaftlern und vorbildlichen Arbeitern, was paradoxerweise den bürgerlichen Heldenkulten ähnelte, denen sie Konkurrenz machen oder die sie verdrängen wollten. Anhand der Untersuchung von Initiativen wie Lenins Monumentaler Propaganda und staatlich gelenkter Heldenverehrung (Stachanowiter, Lenin- und Stalin-Kult, Gedenkfeiern für Goethe und Bach in der DDR) zeigt die Studie, wie das marxistische Denken die Verehrung historischer Persönlichkeiten als Verkörperung kollektiver Sehnsüchte rechtfertigte, auch wenn damit die Gefahr bestand, die ideologischen Widersprüche zu reproduzieren, die der Erhebung von Individuen innerhalb eines angeblich egalitären Rahmens innewohnen. Die Studie untersucht somit die dialektische Beziehung zwischen individueller Handlungsfähigkeit und kollektivem Determinismus in der sozialistischen Geschichtsschreibung und Kulturpolitik.

Dr. Bethan Winter ist Sozial- und Kulturhistorikerin mit Schwerpunkt auf dem Kalten Krieg und besonderer Expertise in der Deutschen Demokratischen Republik und ihren internationalen Beziehungen. Ihre Forschung untersucht die Rolle der Kultur- und Musikdiplomatie in der Außenpolitik der DDR und beleuchtet, wie die DDR ihr musikalisches Erbe neu interpretierte, um eine sozialistische Narrative zu fördern, internationale Besucher anzulocken und Beziehungen zu Ländern aufzubauen, die aufgrund der Hallstein-Doktrin der Bundesrepublik Deutschland sonst unerreichbar waren.

Ihr aktuelles Projekt baut auf dieser Forschung auf und untersucht die sozialistische Konstruktion von „Genialität“ durch die Umschreibung kultureller und historischer Persönlichkeiten. Mit Schwerpunkt auf der DDR, Polen und der UdSSR untersucht sie, wie staatlich sanktionierte Biografien und Gedenknarrative Personen umgestalten, um sie ideologischen Prioritäten anzupassen, und bietet neue Einblicke in die Kulturpolitik von Reputation und Vermächtnis in der sozialistischen Welt.

Derzeit ist sie Postdoctoral Associate Member der Fakultät für Geschichte an der Universität Oxford und Mieroszewski-Stipendiatin in Warschau. Sie promovierte in Oxford als Hanseatic Scholar und hatte zuvor Lehraufträge in Geschichte und Musik am Magdalen College in Oxford inne.

 

18
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