„Občanský průkaz“ (Der Personalausweis), Tschechien 2010

Filmvorführung

Mo. 26.02.2018 | 18:00 Uhr
Prof. Dr. Magdalena Saryusz-Wolska
Warschau

 

Im Rahmen der Filmreihe „Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

137 Min., Regie: Ondřej Trojan
Ort: Kino Iluzjon
Der Film wird im tschechischen Original mit polnischen Untertiteln gezeigt.

Veranstalter der Filmreihe sind das DHI Warschau, die Nationale Filmothek – Audiovisuelles Zentrum, das Institut Français Warschau, das Slowakische Institut Warschau, das Tschechische Zentrum Warschau, das Goethe-Institut Warschau, das Italienische Kulturzentrum und das Marek-Edelmann-Dialog-Zentrum Łódź.

Zum Film:

Občanský průkaz (Der Personalausweis)

Das Erwachsenwerden in der Tschechoslowakei von 1974 war nicht leicht. Vor allem der Personalausweis – „das wertvollste vom Staat leihweise überlassene Dokument, dessen Herabwürdigung mit dem Tode bestraft wird“ – bedeutet für die Protagonisten des Films neue Beschränkungen, wie etwa eine zweijährige Wehrpflicht. Der Personalausweis, in freien Gesellschaften mit Unabhängigkeit und Freiheit assoziiert, war in der „normalisierten“ Gesellschaft ein Symbol der Repression. Seine physische Beschaffenheit verleitete zuweilen zu Gesten des Widerstands: So mancher riss zum Zeichen seines Nichteinverständnisses mit den Forderungen des 15. Kongresses der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei die 15. Seite ein. Wie sonst konnte sich der Protest der Jugend noch äußern, in einem Klima, in dem die Mutter die im Valutageschäft Tuzex gekaufte Jeans mit einer Bügelfalte versah und das Tragen von Kunstfaserhosen empfahl und der Vater sich selbst in den eigenen vier Wänden fürchtete, ein kritisches Wort über das System zu verlieren? Einen Raum des individuellen Ausdrucks bildeten in der Tschechoslowakei der 1970er Jahre musikalische Subkulturen oder ein eigenes literarisches Schaffen. Pink Floyd zu hören oder gar Konzerte der tschechischen Gruppe Plastic People of the Universe zu besuchen, war ein weltanschauliches Statement, war Ausdruck der Ablehnung eines von Heuchelei und Propaganda durchdrungenen Lebens. Hervorragend illustriert wird diese Auflehnung gegen die offizielle Unterhaltungskultur und den Versuch, die Gesellschaft durch die Rationierung von Waren und Dienstleistungen und ein Leben im Rhythmus Heim – Arbeit – Kneipe zu vereinnahmen, sind die Texte tschechischer Underground-Poeten wie Miroslav „Skalák” Skalický und Ivan Martin „Magor” Jirous, die in den Versen einer der Figuren des Films ihren Widerhall finden. Die nostalgische Optik, die auch in der Prosa von Peter Šabach gegenwärtig ist, der eine Inspiration für den Film war, verhüllt nicht seine bittere Botschaft: die Enttäuschung über die konformistische Haltung der engsten Bezugspersonen und die Wut über Gewalt und Verbrechen, für die die kommunistische Tschechoslowakei verantwortlich war. (Text: Ewa Ciszewska)

Zur Filmreihe:

Jahr des Protestes. 1968 im europäischen Kino

Zwölf Filme aus sechs Ländern geben die Atmosphäre Ende der 1960er Jahre wieder – eingefangen zum Zeitpunkt der Ereignisse oder erinnert nach Jahren. Obwohl sich die Forderungen der protestierenden Studenten in Frankreich, Italien und Westdeutschland von den Erwartungen der jungen Leute in Polen und der Tschechoslowakei unterschieden, verband sie doch der Geist des Widerstands und und der Unzufriedenheit mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Alle gehörten sie zur ersten Nachkriegsgeneration. Sie sehnten sich nach einem Bruch mit den alten Moralvorstellungen und suchten eine neue Sprache in der Kunst. Was sie unterschied, war die Politik. In Westeuropa begeisterte sich die rebellische Jugend für den Kommunismus, während die aufbegehrenden Bürger Ostmitteleuropas ihn verdammten.

1968 betrat eine Generation die kulturelle und politische Bühne, für die „Gleichheit“ und „Freiheit“ keine leeren Phrasen waren. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nahm man es damit außerordentlich ernst. Erich Fromm schrieb: „[D]iese jungen Menschen wagen es zu sein und fragen nicht, was sie für ihren Einsatz bekommen oder was ihnen bleibt.“

Die Zeit hatte jedoch auch ihre dunklen Seiten: den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei, die antisemitische Hetze in Polen und die terroristischen Anschläge der Roten Brigaden und der RAF. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen lösten bei den Gruppen, gegen die sie gerichtet waren, Unruhe und Angst aus. Das Ende der 1960er Jahre, das waren nicht nur fröhliche Gegenkultur, Protestsongs und Schlaghosen, sondern auch die Erfahrung handfester Gewalt.

Einrichtungen, die sechs Länder – Polen, Tschechien, die Slowakei, Deutschland, Frankreich und Italien – vertreten, präsentieren ein gemeinsames Panorama jener Zeit im Spiegel des Spielfilms. Das Kino der 1960er Jahre belegt die wichtige und einigende Rolle der Kunst: die Suche nach neuen Ausdrucksformen und mutiger Ästhetik und die Befreiung vom Maulkorb stilistischer Konventionen. Das Jahr 1968 ist ohne die „Neuen Wellen“ im Film nicht zu denken. Der revolutionäre Geist des Kinos von damals lässt die Filme von heute erstaunlich traditionell erscheinen. Ist die Gegenkultur gescheitert? Nicht unbedingt. Heute schwingt in den Erinnerungen an jene Jahre Nostalgie und die Sehnsucht nach Revolte und einer engagierten Jugend mit.

50 Jahre nach dem polnischen März, dem französischen Mai, dem Prager Frühling und den deutschen Studentenprotesten wird Europa erneut von politischen Turbulenzen erschüttert. Die vom Protest jener Generation ausgelösten Veränderungen waren dauerhaft. Die Generation selbst jedoch tritt heute aus Kultur und Politik ab. Sie macht Menschen Platz, die in einem anderen Europa groß geworden sind. Wie gehen wir heute mit dem Erbe von 1968 um? Woran erinnern wir uns, was haben wir vergessen? Die in der Filmreihe gezeigten Filme geben vielfältige Antworten und provozieren weitere Fragen. (Text: Magdalena Saryusz-Wolska)

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