Prof. Matthias Riedl: Apokalyptischer Platonismus: Das Denken von Thomas Müntzer

Vortrag

Mo. 02.06.2025 | 17:00 Uhr
Vilnius

Thomas Müntzers revolutionäre Theologie beschwört Szenarien herauf, in denen Christus und der Antichrist ihre Truppen für die letzte Schlacht sammeln, bevor die Auserwählten Gottes die Herrschaft über die Welt übernehmen. Der apokalyptische Charakter dieser Szenarien ist offensichtlich; doch bilang wurde weitgehend übersehen, wie tief Müntzers Denken in philosophischen Diskursen verwurzelt ist. Nach Müntzer sind die Menschen aus der geistigen in die sinnliche Welt gefallen. Dort vergaßen sie, verstrickt in tierische Begierden, ihren Ursprung. 

Die Aufgabe der Reformationsprediger besteht nicht nur darin, das Volk zu erwecken und es an seinen göttlichen Ursprung zu erinnern. Sie besteht auch darin, bewusst zu machen, was Reformation eigentlich bedeutet: die Läuterung jedes Einzelnen von seiner Sündhaftigkeit durch Verfolgung und Leiden, die Versammlung der Auserwählten aus allen Nationen und Religionen und die Beseitigung der Hindernisse für eine radikale Reform, wie Fürsten, Mönche, Priester und gemäßigte Reformer. 

Nach Müntzers Ansicht haben die bestehenden religiös-politischen Strukturen des Christentums die Form eines kollektiven Antichristen angenommen und eine kosmische Krise verursacht, da sie die Rückkehr der menschlichen Seelen in die geistige Welt behindern. Die Lösung der Krise wird massive Tötungen und Blutvergießen erfordern, wie Müntzer prophezeit. Doch sie werde die Vergöttlichung (Vergottung) der Auserwählten ermöglichen.

In diesem Vortrag zeigt Matthias Riedl, dass viele Elemente dieses theologischen Programms in bewusster Opposition zu Martin Luther, Müntzers Hauptgegner in der frühen Reformationsbewegung, geschaffen wurden.

Matthias Riedl ist außerordentlicher Professor für Geschichte an der Central European University in Wien und Vorsitzender des Advanced Certificate Program in Political Thought der CEU. Er lehrte außerdem an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der Duke University in Durham, North Carolina, und der Tokyo University of Foreign Studies. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Beziehungen zwischen Religion und Politik im westlichen Christentum von der Spätantike bis zur Frühen Neuzeit. Derzeit untersucht er die Entstehung revolutionärer Apokalyptik im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit und schreibt eine Monografie über den deutschen radikalen Reformer Thomas Müntzer. Er ist Autor einer Monografie über den apokalyptischen Denker Joachim von Fiore aus dem 12. Jahrhundert (2004), zahlreicher Artikel zur Geschichte des religiösen und politischen Denkens sowie (Mit-)Herausgeber von Sammelbänden zu den Themen „Prophets and Prophecies“ (2005), „Humans at War, at Peace with Nature“ (2006), „Religions – The Religious Experience“ (2008), „God or Gods? (2009), Die Stadt – Achse und Zentrum der Welt (2011), Der apokalyptische Komplex (2018) und Begleiter zu Joachim von Fiore (2018).

Der Vortrag findet in der Geschichtsfakultät der Universität Vilnius statt.
Beginn: 17:00 Uhr
Moderation: Dr. Povilas Dikavičius (Deutsches Historisches Institut Warschau)

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