Der Forschungsalltag ukrainischer Historikerinnen

Um über die Arbeitsbedingungen von ukrainischen Historikern zu informieren und zu diskutieren, fand am 17. Januar 2023 unter dem Titel „Historiker bei der Arbeit: Alltagserfahrungen ukrainischer Forschender“ ein interner Workshop statt. In der Begrüßungsrede wies Ruth Leiserowitz auf die enormen Herausforderungen hin, die sich für Historikerinnen und Historiker in der Ukraine ergeben haben, und brachte ihre Hoffnung auf eine gemeinsame wissenschaftliche Zukunft in einer freien Ukraine und in einem freien Europa zum Ausdruck.

Den ersten Teil begann Olga Barvinok, die auf allgemeine Herausforderungen für die ukrainische Geschichtswissenschaft hinwies: die unvollkommene Gesetzgebung, minimale Finanzierung der Geisteswissenschaften, ein fehlender „Trend“ für Geisteswissenschaften bei jungen Menschen, die Formalisierung /Bürokratisierung der wissenschaftlichen Tätigkeit und Notwendigkeit der Entkolonialisierung der ukrainischen Studien sowie häufig geringe Fremdsprachenkenntnisse.

Anschließend erläuterten Tetiana Kovalenko und Anastasiia Bozhenko die Besonderheiten der Hochschulausbildung für HistorikerInnen in der Ukraine und die Arbeitsbedingungen für Dozenten. Insbesondere wurde hervorgehoben, dass trotz Plagiatskontrollen die Frage der akademischen Ethik nach wie vor ein Problem darstelle, dass die Universitäten mitunter nur langsam auf Veränderungen reagieren und dass sich in einem kriegsbedingten Umfeld die bestehenden strukturellen Probleme noch verschärft hätten. Im Bereich des Doktoratsstudiums durchlaufe die Ukraine derzeit einen Reformprozess, der einerseits einen wichtigen Schritt in Richtung Integration in den europäischen Forschungsraum darstelle, andererseits habe dieses neue System leider die Schwächen des
alten, postsowjetischen Systems geerbt.

Der zweite Block war der Arbeit von Forscherinnen und Forschern in den Archiven und Bibliotheken der Ukraine gewidmet. Larysa Zherebtsova und Alena Bagro sprachen über den Zugang zu archivarischen Quellen vor und während des Krieges, die Digitalisierung und die Schaffung eines einheitlichen Archivnetzes. Sie wiesen unter anderem auf den durch das Kriegsrecht stark eingeschränkten Zugang zu Regionalarchiven hin, erwähnten aber auch die voranschreitenden Digitalisierungsarbeiten. Auch im Bereich der Bibliotheken seien positive Entwicklungen zu verzeichnen, beispielsweise kostenpflichtige Online-Dienste und Erweiterungen der elektronischen Bibliotheksdatenbanken sowie weitere Online-Archive.

Eine weitere Herausforderung auf dem Weg zur vollständigen Integration der ukrainischen Geschichtswissenschaft in den europäischen Raum stellte Olga Barvinok ausführlich vor: fehlende oder nicht ausreichende Sprachkenntnisse in Wissenschaft und Lehre. Die Sprachsituation in der Ukraine könne als Grundlage der heutigen Staatlichkeit bezeichnet werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine, erklärte die Historikerin. Sie forderte mehr staatlichen Unterricht in internationalen Kommunikationssprachen wie Englisch. Hier liege die Ukraine weltweit auf Platz 43 und in Europa auf Platz 32.

Aufgrund unzureichender Sprachkenntnisse hätten ukrainische Forschende zudem geringere Möglichkeiten, in internationalen Fachzeitschriften zu publizieren. Diesem Thema widmete sich Olena Sokalska im letzten Block. Als wichtigste Einflussfaktoren auf die Publikationsstrategie in der Ukraine nannte sie unter anderem die formalen Anforderungen von Universitäten und dem ukrainischen Bildungsministerium, die Relevanz der Zeitschrift für den Forschungsgegenstand, die Indexierung der Zeitschrift und Veröffentlichungen auf Online-Plattformen sowie das angemessene Niveau der technischen Unterstützung für die Veröffentlichung. Wissenschaftliche Artikel zur ukrainischen Geschichte würden nur selten in Fremdsprachen übersetzt und seien kaum bei Online-Buchdiensten wie Google Books oder Amazon verfügbar.

Hinsichtlich der ukrainischen Fachzeitschriften gestalte sich die Situation hingegen besser. Artikel in ukrainischen Zeitschriften seien auf der ganzen Welt verfügbar und die Sichtbarkeit der Metadaten gewährleiste, sodass dort zitierte AutorInnen über die Veröffentlichung informiert würden. Eine Ausnahme seien – insbesondere nach Februar 2022 – Veröffentlichungen in russischen Zeitschriften.

An der anschließenden Diskussion nahmen auch geladene Gäste teil, darunter Konrad Bobiatyński, Piotr Kroll, Elżbieta Kwiecińska und Tomasz Stryjek aus Polen sowie Ihor Kryvoshyia, Iryna Kryvosheia und Serhij Sieriakov aus der Ukraine. Sie diskutierten die Probleme der Lehrtätigkeit im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg einerseits und mögliche Formen der Unterstützung für ukrainische Forscherinnen und Forscher andererseits. Die Veranstaltung endete mit einem gemeinsamen Vergleich der Situation an historischen Instituten in Polen und der Ukraine.

29
Apr
Vortrag
Prof. Dr. Karsten Brüggemann (Tallinn): A Transnational Perspective on the Baltic Wars of Independence
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