Die Erfindung der Slawen im Mittelalter

Im Rahmen seines Fellowship-Aufenthalts an der Prager Außenstelle des DHI Warschau besuchte Eduard Mühle am 21. Januar 2022 das Historische Seminar der Masaryk-Universität in Brünn. Auf Einladung der Brünner Mediävisten hielt er im Kolloquium Brněnský medievistický pátek einen Vortrag über „Die Erfindung der Slawen im Mittelalter“. 

Die Frage nach dem Wesen und Charakter eines mittelalterlichen „Slawentums“ wirkt traditionell. Wie Gastgeber Martin Wihoda jedoch einleitend betonte, stoße das Thema im Kreis der Brünner Mediävisten, Archäologen und Slawisten dennoch auf besonders großes Interesse. Insbesondere insofern als diese Fragestellung von der tschechischen Mediävistik und Slawistik schon seit längerer Zeit kaum noch gestellt werde. Daher fehle es dort an einem modernen methodischen Zugang, der die identitäts-, erinnerungs- und geschichtspolitischen Dimensionen des Phänomens in den Vordergrund stelle. Auf der Grundlage erneuter Analysen einschlägiger Quellen könne die Geschichte der Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit neu erzählt werden. Genau dies leiste der Referent mit seinem Buch, das in Kürze ebenfalls in tschechischer Sprache erscheinen wird.

Der Buchvorstellung des Autors folgten rund 40 Studierende, Doktoranden, wissenschaftliche Mitarbeiter und Professoren der Geschichte, Archäologie und Slawistik. Einleitend beschrieb Eduard Mühle die Entstehung des Begriffs „Slawen“ im 6. Jahrhundert in Byzanz: Der Begriff habe zunächst nur eine überschaubare Gruppe fremder Krieger bezeichnet, die vom nördlichen Ufer der Donau in das Byzantinische Reich einfielen. Seit dem 7. Jahrhundert sei der Name auf weitere, im und aus dem östlichen Europa auftauchende Bevölkerungsgruppen übertragen worden, die den byzantinischen, lateinischen wie arabischen Beobachtern bis dahin unbekannt waren. Auf diese Weise sei eine allgemeine Abstraktion für sehr verschiedene Bevölkerungsgruppen entstanden. Diese habe in den Augen externer Beobachter allein der Umstand verbunden, dass sie von außen als fremd, wild und barbarisch wahrgenommen wurden und sich offenbar eines ihnen allen verständlichen Dialektkontinuums (des „Slawischen“) bedienten. Von Beginn an, so der Historiker, sei diese Bezeichnung auch mit negativen Konnotationen besetzt gewesen.

Mit zunehmend genauerer Kenntnis vom östlichen Europa sei der pauschale und abstrakte Slawen-Name „Sclavi“ seit dem 8.-10. Jahrhundert durch individuelle Ethnonyme (Abodriten, Heveller oder Böhmen, Polen oder Serben, Kroaten etc.) ersetzt worden. Die „Sclavi“  hingegen seien weitgehend auf jene slawischsprachigen Bevölkerungsgruppen eingeengt worden, die (wie die Elbslawen) weiterhin ungetauft und somit ‚Objekte‘ christlicher Missions- und herrschaftlicher Eroberungspolitik blieben. Gleichzeitig habe das „Slawische“ für die erfolgreichen mittelalterlichen Reichs- und Nationsbildungen der Bulgaren, Böhmen, Kroaten, Serben, Rusʼ und Polen keinerlei Rolle gespielt. In der mittelalterlichen slawischsprachigen Bevölkerung habe es kein Bewusstsein von einer „slawischen Gemeinschaft“ gegeben. 

 

Dieser „Realität“ stellte der Referent sodann die „Slawische Idee“ gegenüber, die – wie er deutlich betonte – keineswegs eine Erfindung der Moderne war. Schon im Mittelalter sei die Vorstellung von einer Verwandtschaft aller Slawischsprechenden, von einer gemeinsamen „slawischen“ Herkunft, Geschichte und Kultur zu geschichtspolitischen, herrschaftslegitimierenden Zwecken künstlich konstruiert worden. Wie dies im Einzelnen geschah, verdeutlichte Mühle am Beispiel des böhmischen Königshofes des 13. und 14. Jahrhunderts. Seine Ausführungen und Thesen trafen auf eine sehr aufmerksame, ausgesprochen debattierfreudige Zuhörerschaft, sodass sich eine lange und lebhafte – auch seitens Studierender auf einem hohen deutschsprachigen Niveau geführte – Diskussion anschloss.

29
Apr
Vortrag
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