Vortrag von Prof. Dr. Dr. h. c. Victor Dönninghaus über die „Tagebücher“ Leonid Brežnevs als Schlüssel zum Verständnis der Persönlichkeit des Generalsekretärs

Am 14. November 2017 war der stellvertretende Direktor des Nordost-Instituts an der Universität Hamburg mit einem Vortrag im Rahmen der Reihe „Dienstagsvorträge“ am DHI Warschau zu Gast.

Die Regierungszeit Leonid Brežnevs lässt sich bis heute mit Fug und Recht als „geheimste“ Epoche der Sowjetgeschichte bezeichnen. Zahlreiche wichtige Dokumente der höchsten Machtorgane, nicht zuletzt die Dokumente des Politbüros der Jahre 1964–1982, sind bis zum heutigen Tag unter Verschluss. Vor diesem Hintergrund kommt der wissenschaftlichen Erschließung der persönlichen Aufzeichnungen Brežnevs, die dieser von den 1950er Jahren bis zu seinem Tod führte, als historische Quelle eine herausragende Bedeutung zu.

Victor Dönninghaus, von 2010 bis 2013 stellvertretender Direktor des DHI Moskau, wertet im Rahmen eines Editionsprojektes des Schwesterinstituts des DHI Warschau diese bisher unzugänglichen Arbeitsnotizen des Generalsekretärs der KPdSU aus. In seinem Vortrag erläuterte er, welche Aufschlüsse sich aus diesen Ego-Dokumenten über die tatsächlichen Ansichten des Generalsekretärs und seine Persönlichkeit gewinnen lassen. Dönninghaus betonte zwar, dass die sehr fragmentarischen und teilweise schwer zu dechiffrierenden Notizen sich nur eingeschränkt als selbstständige historische Quelle eigneten. Gleichzeitig verwies er jedoch darauf, dass allein die Möglichkeit, die in den Erinnerungen und Memoiren Dritter enthaltenen Informationen über Brežnev anhand einer Quelle zu verifizieren, in der dieser selbst als Hauptzeuge auftritt, kaum zu überschätzen sei. Schon die Information, wo Brežnev sich wie lange aufgehalten hat, womit er beschäftigt war, mit wem er sich wann getroffen oder mit wem er telefoniert hat, gebe Antwort auf zahlreiche Fragen, etwa über Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit des Generalsekretärs, seinen Umgang, seine Interessen und Leidenschaften – und das in der Entwicklung über mehrere Jahrzehnte hinweg. Auf diese Weise, so Dönninghaus, zeuge Brežnevs „Bordbuch“ davon, dass der Generalsekretär im Vergleich zu seinen Vorgängern Lenin, Stalin und Chruščev mehr Bürokrat als Ideologe, mehr Epigone als Theoretiker, mehr Politoffizier als Revolutionär gewesen sein. 

In der anschließenden Diskussion mit dem Publikum kamen u.a. zusätzliche quellenkritische Aspekte zur Sprache. Bei der Beantwortung der Frage, welche neuen Erkenntnisse sich aus Brežnevs Notizen über seine Haltung zu so zentralen politischen Ereignissen wie dem Prager Frühling gewinnen ließen, machte Dönninghaus deutlich, wie sehr solche gravierenden politischen Ereignisse – aber auch die Zwänge eines zutiefst ritualisierten Systems – Brežnev psychisch und physisch an seine Grenzen führten.

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