Maciej Górnys Vortrag vom 15. März 2018 über gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen im Vorfeld der ostmitteleuropäischen Staatsgründungen nach 1918

Vor hundert Jahren entstand in Ostmitteleuropa infolge des Ersten Weltkrieges eine ganze Reihe neuer Nationalstaaten, die an die Stelle der alten multiethnischen Imperien traten. Diese Staatsgründungen, die für die Nationalbewegungen vor dem Krieg noch nicht absehbar waren, wurden ab 1918 an vielen Schauplätzen Ostmitteleuropas zur Realität. Die Tatsache, dass die Entstehungsgeschichte der neuen Staaten im Rückblick häufig teleologisch gedeutet wird, bildete für Maciej Górny den Ausgangspunkt dafür, über die sozialen und kulturellen Bedingungen dieser Staatsgründungen nachzudenken.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter des DHI Warschau und Professor am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften ging in seinem Vortrag am 15. März 2018 im Deutschen Historischen Institut Warschau „Bevor die Unabhängigkeit ausbrach. Ostmitteleuropa 1914–1918“ u.a. auf den Fragenkomplex ethnischer Identitäten und nationaler Affinitäten in den Armeen der Weltkriegsgegner in Ostmitteleuropa ein. Als zentrale Entwicklungslinie identifizierte er den Zerfall der Armeen entlang ethnischer Kategorien. Besonderes Augenmerk richtete Górny überdies auf die zunehmenden sozialen Spannungen innerhalb der Imperien gegen Ende des Krieges, Spannungen, die sich etwa in Streiks und Gefängnisaufständen entluden. Dabei standen, wie der Vortragende plausibel machte, nicht immer nationale Zielsetzungen im Vordergrund. Die sozialen Probleme waren von ähnlicher Sprengkraft, so dass die Entwicklung durchaus auch in Richtung einer sozialen Revolution hätte gehen können. Dies nahm Górny als Beispiel für die Kontingenz, die nach seiner Darstellung ein Charakteristikum der damaligen Situation war. Damit suchte er das weitverbreitete Narrativ, die nationale Lösung in Ostmitteleuropa nach Ende des Ersten Weltkriegs sei unausweichlich gewesen, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen und die Geschichtsschreibung zu dem Thema aus dem Korsett nationalhistorischer Teleologien zu befreien.
Kontroverse Bewertungen der oben angedeuteten gesellschaftlichen Transformationsprozesse bestimmten die anschließende Diskussion. Thematisiert wurden auch die gegenwärtigen Debatten um die Deutung der polnischen Geschichte und insbesondere der polnischen Staatsgründung 1918 als historische Notwendigkeit oder aber als zufälliges Produkt günstiger Umstände.
Die Veranstaltung war Teil der Reihe der „Deutsch-Polnischen Wissenschaftlichen Begegnungen“, die die Warschauer Abteilung der Societas Humboldtiana Polonorum in Kooperation mit der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau, der Warschauer Vertretung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und dem Deutschen Historischen Institut Warschau organisiert.

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