Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger: Verfassungsgeschichte als Ritualgeschichte? Das Heilige Römisch-Deutsche Reich in neuer Perspektive

Vortrag

Di. 09.12.2008 | 18:00 -
Di. 09.12.2008 | 21:00 Uhr
Warschau

Verfassungsgeschichte als Ritualgeschichte?
Das Heilige Römisch-deutsche Reich in neuer Perspektive

Abstract:
Wie kann man eine angemessene Verfassungsgeschichte derjenigen Epochen schreiben, die noch keine systematischen geschriebenen Verfassungen kannten? Wie kann man vermeiden, die vormodernen Strukturen durch die Brille der modernen Verfassungskategorien wahrzunehmen? Die „kulturalistische Wende“ der Geschichtswissenschaft bietet eine andere Perspektive an, denn sie interessiert sich gerade für das Fremdartige vergangener Epochen, nicht für das Vertraute. Das Heilige Römisch-deutsche Reich stellt sich aus dieser Perspektive als ein institutionelles Gebilde dar, das weniger durch ergebnisoffene formale Verfahren als vielmehr durch Rituale zusammengehalten wurde. Verfahren stellen kollektiv verbindliche Entscheidungen her; Rituale stellen verbindliche Ordnungen dar. Je komplexer eine Gesellschaft wird und je weniger sie sich auf Konsens stützen kann, desto weniger reichen Rituale für ihren Zusammenhalt aus. So erschien das Reich kritischen Beobachtern wie Pufendorf, Goethe oder Hegel am Ende als ein in anachronistischen Ritualen erstarrtes Monstrum. Es fragt sich aber, wieso die alten rituellen Formen bis zum Untergang des Reiches gleichwohl von den Beteiligten extrem ernst genommen wurden. Am Beispiel der feierlichen Thronbelehnung der Reichsvasallen durch den Kaiser soll dieser Frage nachgegangen werden. Dieser Akt der Fürsteninvestitur war die ganze frühe Neuzeit hindurch das Ritual, das die Ordnung des Reiches immer aufs Neue vergegenwärtigte. Es verlor seine ordnungsstiftende und integrierende Wirkung im 18. Jahrhundert mehr und mehr, konnte aber nicht preisgegeben werden, weil es keine Alternativen dafür gab.

Barbara Stollberg-Rilinger
geb. 1955 in Bergisch Gladbach; Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wichtigsten Veröffentlichungen: Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats (Historische Forschungen, Bd. 30). Berlin: Duncker & Humblot 1986; Vormünder des Volkes? - Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Rei¬ches (Historische Forschungen, Bd.64). Berlin: Duncker & Humblot 1999; Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vom Spätmittelalter bis 1806 (Beck Wissen), München: Beck 2006, 2. Aufl. 2006; 3. Aufl. 2007, 4. Aufl. 2007; Hrsg. zusammen mit Gerd Althoff, Jutta Goetzmann und Matthias Puhle, Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800-1800. Katalog- und Essayband zur Ausstellung des Kulturhistorischen Museums Magdeburg, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008

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