Prof. Dr. Christian Wiese (Brighton): "Zwischen Verfolgung, Duldung und Integration. Zur Geschichte der Juden in Deutschland im ‚langen‘ 19. Jahrhundert"

Vortrag

Di. 27.10.2009 | 18:00 -
Di. 27.10.2009 | 20:00 Uhr
Warschau

Aus einer Perspektive nach der Shoah läge es nahe, die deutsch-jüdische Geschichte seit der Aufklärung vor allem als Vorgeschichte des gewaltsamen Endes der jüdischen Minorität in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus zu betrachten. Die historische Wirklichkeit und die Erfahrung der Juden in Deutschland während des ‚langen 19.
Jahrhunderts‘ ist jedoch wesentlich komplexer, vielfältiger und im Spiegel einer Geschichte des Antisemitismus nicht angemessen zu erfassen. Der Vortrag greift Tendenzen der gegenwärtigen deutsch-jüdischen Historiographie auf und konzentriert sich insbesondere
auf den politischen und kulturellen Integrationsversuch der deutschen Judenheit unter den wechselnden Bedingungen zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg. Dieser Prozeß der Emanzipation, Akkulturation und Integration, stets strittig, prekär und durch die Behauptung einer ‚Judenfrage‘ begrenzt, war auf jüdischer Seite durch
einen beispiellosen bürgerlichen Aufstieg, entschiedene Integration und eine hochinteressante Modernisierung und Transformation jüdischen Selbstverständnisses charakterisiert, aber auch durch Identitätskrisen und das aussichtslose Unterfangen, in der deutschen Gesellschaft Akzeptanz für ein Integrationsmodell durchzusetzen, das gleichberechtigte soziale und kulturelle Partizipation mit der Bewahrung einer eigenständigen jüdischen Identität zu verbinden trachtete. Themen des Vortrags sind die Dialogversuche der jüdischen Aufklärung und der Wissenschaft des Judentums mit den geistigen Strömungen der Zeit von Mendelssohn und Leo Baeck, die schwierige Weggemeinschaft der jüdischen Minderheit mit dem Liberalismus, jüdische Abwehrstrategien in Auseinandersetzung mit dem sich herauskristallisierenden modernen Antisemitismus und die Rolle zionistischer Ideen vor dem Ende des Deutschen Kaiserrreichs. Eine der leitenden Fragestellungen orientiert sich an Gershom Scholems radikaler Infragestellung der Existenz eines „deutsch-jüdischen Gesprächs“ und den Differenzierungen, die sich in der Historiographie der letzten Jahrzehnte durchgesetzt haben.

Christian Wiese ist seit 2007 Professor für jüdische Geschichte, Direktor des Centre for German-Jewish Studies und Co-Direktor des Centre for Modern European Cultural History an der University of Sussex, United Kingdom. Zur Zeit vertritt er zudem als Gastprofessor die Marin Buber Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Weitere Gastprofessuren führten ihn zwischen 2003 und 2006 an die McGill University in Montreal, das Dartmouth College (USA) und das Trinity College in Dublin. Seine Forschungsthemen liegen im Bereich der europäisch-jüdischen Geistes-,
Sozial- und Kulturgeschichte der Moderne sowie der Jüdischen Philosophie. Zu seinen Publikationen zählen u.a. die Monographien Wissenschaft des Judentums und Protestantische Theologie im Wilhelminischen Deutschland. Ein ‚Schrei ins Leere‘? (1999) und The Life
and Thought of Hans Jonas: Jewish Dimensions (2007).

 

Kommentar: Prof. Dr. Marcin Wodziński (Zakład Studiów Żydowskich Uniwersytetu Wrocławskiego / Muzeum Historii Żydów Polskich)

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