Forschungsthema „Slawen“ an der Außenstelle Prag

Prof. Dr. Eduard Mühle

Seit zwei Jahren ist das DHI Warschau stolzer Besitzer einer Wohnung in der tschechischen Hauptstadt. Die 136 Quadratmeter in der Prager Altstadt stehen Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern für einen Forschungsaufenthalt zur Verfügung. Die Wohnung befindet sich in zentraler Lage zwischen wichtigen Forschungsstandorten wie der Tschechischen Nationalbibliothek und der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität samt Bibliothek. Außerdem ist durch die unmittelbare Nähe zur Prager Außenstelle des DHI Warschau der Kontakt zu ortskundigen Wissenschaftlern gegeben. Als ersten Gastwissenschaftler konnten wir Michael G. Müller in Prag begrüßen, darauf folgten Ralph Schattkowsky und Eduard Mühle. Ab dem 1. März wird Adela Kuik-Kalinowska im Rahmen des Reisdenzprogramms forschen.

Ein Bericht von Eduard Mühle:

Die Einladung des DHI Warschau, einen halbjährigen Forschungsaufenthalt an seiner Prager Außenstelle zu verbringen, traf sich in glücklicher Weise mit einem mir von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gewährten letzten Forschungsfreisemester. So konnten die Vorzüge des Prager Residenzprogramms des DHI vom 1. September 2021 bis 28. Februar 2022 für konzentrierte und ungestörte Arbeiten an zwei größeren Themenkomplexen genutzt werden. Gegenstand der – überwiegend im gut ausgestatteten Arbeitszimmer der DHI-Gästewohnung durchgeführten – Studien waren zum einen Vorarbeiten zu einer Gesamtdarstellung der deutsch-polnischen Nachbarschaftsgeschichte, zum anderen eine Fortsetzung der Befassung mit der Geschichte der Slawen zwischen Idee und Wirklichkeit in Mittelalter und Neuzeit.

Die Anwesenheit in Prag ermöglichte es, mit dem Prager Argo-Verlag und dem zuständigen Reihenherausgeber, Martin Nodl (Zentrum für Mediävistische Studien/Centrum medievistických studií) die für 2022 geplante Herausgabe einer tschechischen Ausgabe des 2020 im deutschen Original erschienenen Buches „Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit“ voranzubringen; das Manuskript lag Ende 2021 in tschechischer Übersetzung vor und war in redaktioneller Bearbeitung; die tschechischsprachigen Kartenbeilagen wurden in Kooperation mit dem Münsteraner Institut für Vergleichende Städtegeschichte bis Januar 2022 erstellt. Gegenüber der deutschen und der 2021 erschienenen polnischen Ausgabe konnte das tschechische Manuskript weiter aktualisiert werden. Dazu flossen auch Kommentare und Hinweise aus zwei sehr regen und ergiebigen Diskussionsveranstaltungen ein, die im Oktober im DHI Warschau und im Januar im Historischen Seminar bzw. im Mediävistischen Freitagskolloquium der Universität Brünn durchgeführt werden konnten (vgl. hierzu die Berichte auf der Website des DHI Warschau bzw. im DHI-Newsletter 2021/3). Bedauerlicherweise ist ein für den November 2021 in Prag angesetzter und bereits beworbener einschlägiger Vortrag dem pandemischen Geschehen zum Opfer gefallen; da im Zentrum für Mediävistische Studien anschließend auch kein Ersatztermin gefunden werden konnte, musste auf eine Diskussion mit Prager Mediävisten, Archäologen und Slawisten leider verzichtet werden. Es ist ins Auge gefasst, diese Diskussion nach Erscheinen der tschechischen Ausgabe im Rahmen einer gemeinsamen Buchpräsentation von DHI und Zentrum für Mediävistische Studien nachzuholen. 

Neben Nacharbeiten zu den „Slawen im Mittelalter“ (zu denen auch eine kontinuierliche Aktualisierung der in Vorbereitung befindlichen englischen Ausgabe zählte) wurden Fortsetzungsarbeiten am Komplex „Die Slawen“ in Hinblick auf die Neuzeit durchgeführt. Die im Mittelalterband behandelte Frage, wer und was die Slawen waren, soll in einer weiteren Monographie auch für die Neuzeit bearbeitet werden. Dabei soll gezeigt werden, wie Vorstellungen von einer gemeinsamen Herkunft, Sprache, Mentalität, Kultur und Geschichte der Slawen in den neuzeitlichen Identitätsdiskursen politisch instrumentalisiert worden sind. Dazu soll untersucht werden, 1. wann, warum und in welcher Weise die frühneuzeitliche Gelehrsamkeit und die modernen Kulturwissenschaften bestimmte Modelle von einer gemeinsamen „slawischen Kultur“ entwickelt haben, 2. ob und wie in diesen Modellen mittelalterliche Topoi fortgewirkt haben und 3. welche realgeschichtlichen Wirkungen von den auto- und heterostereotypen neuzeitlichen Slawenbildern ausgegangen sind und welche Rolle die aus den verschiedenen Außen- und Innenperspektiven entworfenen Vorstellungen von einer slawischen Gemeinschaft, von einem besonderen slawischen Charakter und einer spezifischen slawischen Kultur in den konkurrierenden Identitätsdiskursen des mittleren und östlichen Europa gespielt haben. Dazu werden sowohl die einzelnen slawischsprachigen Gesellschaften in ihren jeweiligen historischen Kontexten in den Blick genommen, als auch die komplexen Verflechtungen zwischen diesen Gesellschaften bzw. ihren individuellen, auf kulturelle, nationale, schließlich staatliche Emanzipation orientierten Bestrebungen betrachtet und Beides in seiner Verflechtung mit den historischen Entwicklungen und Identitätsdiskursen der nichtslawischsprachigen Nachbargesellschaften analysiert. Während des Prager Aufenthalts erfolgten hierzu vertiefende bibliographische Recherchen, Zugriffe auf in deutschen Bibliotheken schwer erreichbare Titel und Lektüren insbesondere zu vom genius loci inspirierten Aspekten (Austroslawismus, Prager Slawenkongress 1848, Palacký u.ä.). Ein kleiner Teilausschnitt aus den Arbeiten zum neuzeitlichen Slawenbild bzw. zur „slawischen Idee“ in der Neuzeit konnte im November im Rahmen eines von der DHI-Außenstelle Vilnius organisierten Vortrages („The Slavs in Modern German Political and Cultural Thought“) im Historischen Seminar der Universität Vilnius zur Diskussion gestellt werden.

Auch wenn die Prager Atmosphäre, die zahlreichen topographischen, architektonischen und kulturellen Erinnerungsorte der Stadt und des Umlandes vor allem das Nachdenken über „die Slawen“ inspiriert haben, lag der Schwerpunkt der Arbeiten bei den deutsch-polnischen Nachbarschaften. Die Geschichte deutsch-polnischer Nachbarschaften stellt eine besondere methodisch-konzeptionelle Herausforderung dar. Daher zielten die in Prag durchgeführten Studien in erster Linie auf die Ausarbeitung einer tragfähigen Konzeption für eine vom C.H. Beck-Verlag in Auftrag gegebene (an ein breiteres Publikum adressierte) Synthese. Deren Anliegen soll es sein, die Komplexität deutsch-polnischer Nachbarschaftsbeziehungen in einer innovativen, eingängigen Narration aus einer Autorenperspektive erfahrbar und verständlich zu machen. Dabei kann es nicht um eine geographisch umfassende deutsch-polnische Geschichte oder eine Darstellung gehen, die ein Jahrtausend europäischer Geschichte unter „deutschen“ und „polnischen“ Aspekten vollständig zu erfassen versucht. Geplant ist vielmehr eine exemplarisch arbeitende Geschichte der Nachbarschaften, die ihren Gegenstand quellennah an gut durchdachten Beispielen eindrücklich und einprägsam vor Augen führt. Auf diese Weise sollen die strukturellen Verbindungen, die konflikthaften Zusammenstöße und produktiven Anziehungen, die Kommunikation und Zirkulation von Ideen, die Migration von Menschen, der Austausch von Institutionen, sozialen Praktiken, Symbolsystemen, Technologien und Artefakten, schließlich die wechselseitigen Wahrnehmungen, die die Nachbarschaften von „Deutschen“ und „Polen“ vom späten 10. bis ins frühe 21. Jahrhundert bestimmt haben, aufgezeigt werden. Die konkreten Arbeiten der Prager Monate mündeten zum einen in die erste Fassung eines Aufsatzes mit dem Titel „Das Ostmitteleuropa der Nachbarschaften. Überlegungen zur Tauglichkeit einer Forschungskategorie“, der auf einer ursprünglich für Dezember in der Prager Botschaft geplanten (nun für Juni 2022 terminierten) Tagung des DHI zur Diskussion gestellt werden soll(te), zum anderen in eine erste Fassung der Kapitel zum frühen und hohen Mittelalter. 

Alle Arbeiten wurden auf das Beste durch den Leiter der DHI-Außenstelle, Zdeněk Nebřenský, unterstützt, u.a. durch zügige Buchausleihen aus den Prager Bibliotheken. Der Aufenthalt war nicht zuletzt auch dank einer sehr angenehmen Gästewohnung im Zentrum der Prager Altstadt ein voller Erfolg.

Prof. Dr. Eduard Mühle
Münster, März 2022

29
Apr
Vortrag
Prof. Dr. Karsten Brüggemann (Tallinn): A Transnational Perspective on the Baltic Wars of Independence
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