Seit der Entstehung der Christenheit existierte in ihren Lehren eine klare Unterscheidung zwischen erwünschten und ‚unsittlichen‘ sexuellen Verhaltensweisen, wodurch das Liebesleben der Gläubigen geformt werden sollte. Die Kirchen der verschiedenen Konfessionen haben zu diesem Zweck ein breites Spektrum an Mitteln eingesetzt, u.a. Predigten, Beichte, Flüche, Exkommunikation sowie andere Strafen. Die Organisatoren der Konferenz, Jaśmina Korczak-Siedlecka und Michael Zok vom DHI Warschau, wollten eine Bottom-up-Perspektive auf diese Aktivitäten einnehmen. Im Fokus standen die beiden Fragen, inwieweit Gläubige in den verschiedenen Epochen diesen Lehren folgten und inwieweit sie die christliche Moral als ihr eigenes Normsystem verinnerlichten. Zur Konferenz wurden Fachleute aus verschiedenen Epochen und Bereichen eingeladen. Darunter reisten neben Historikerinnen und Historikern auch Forschende der Theologie, Soziologie und Ethnologie aus Polen, Deutschland, der Ukraine, der Tschechischen Republik, Ungarn und den USA an.
Insgesamt wurden 18 Beiträge präsentiert. Die Konferenz begann am 22. November 2022 mit einem Vortrag von Klaus van Eickels, der die Entwicklung der Sexuallehre der katholischen Kirche vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert knapp aber treffend nachzeichnete. Der eigentliche Austausch begann am 23. November. Hauptthema dieses Tages war die Divergenz zwischen der alltäglichen Praxis im Bereich der Sexualität und den von den Priestern vertretenen
Grundsätzen. Jede Sektion befasste sich mit einer anderen sozialen Gruppe: vom Klerus über die Elite bis hin zum Volk. Das erste Panel zeigte, dass der Klerus selbst bereits ein Problem damit hatte, sich an die von ihm gepredigten Lehren zu halten. Dieses Phänomen hat sich im Laufe der Zeit nicht verändert, wie die Abhandlungen über das Konkubinat im Mittelalter und homosexuelle Beziehungen von Geistlichen in jüngerer Zeit zeigen. In der nächsten Sitzung wurde
nachgewiesen, dass dasselbe Phänomen auch in der weltlichen Elite auftrat – ob bei mittelalterlichen Monarchen oder in den Kreisen höherer Beamter der Belle Epoque, unerlaubte hetero- und homosexuelle Beziehungen erwiesen sich als eine Art Norm. Im folgenden Panel wurden vier Beiträge zur Landbevölkerung vorgestellt, die jeweils einen anderen zeitlichen Rahmen abdeckten. Sie zeigen deutlich, dass trotz der jahrhundertelangen Durchsetzung der christlichen
Moral voreheliche Beziehungen auf dem Lande weithin akzeptiert wurden und dass der Marienkult in der Praxis nicht dazu führte, dass der Jungfräulichkeit ein besonderer Wert beigemessen wurde.
Der nächste Tag der Konferenz war ausgewählten Fragen des Sexuallebens in Bezug auf die Lehren der verschiedenen christlichen Kirchen gewidmet. Zunächst wurde das Thema Recht – das Verhältnis zwischen kirchlicher und weltlicher Gesetzgebungi – behandelt, wobei insbesondere das Problem der Impotenz als Grundlage für eine offizielle Auflösung der Ehe im Mittelpunkt stand. Obwohl während der gesamten Konferenz auf eine Reihe christlicher Riten Bezug genommen wurde, wurde in der anschließenden Diskussionsrunde den interreligiösen Beziehungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Teilnehmenden behandelten Fragen zu den Unterschieden in der Lehre, zur rechtlichen Regelung der Beziehungen zwischen Partnern verschiedener Konfessionen und zur gesellschaftlichen Haltung gegenüber gemischten Partnerschaften. Einzigartig ist auch, dass diese über das Christentum hinausging und sich mit der jüdischen Bevölkerung befasste. Im Gegensatz dazu war das Thema des letzten Konferenzteils dieAuswirkung der kirchlichen Lehre auf die Situation von Frauen, und während sich dieses Thema in Bezug auf verschiedene Epochen und Umstände durch alle Panels zog, lag der Schwerpunkt diesmal auf der jüngeren Geschichte und den für diese Zeit charakteristischen Problemen, zum Beispiel der Abtreibung.
Die Konferenz zeigte, dass in allen Epochen des christlichen Europas das Alltagsleben breiter Bevölkerungsschichten stark von den vom Klerus vertretenen Normen abwich. Trotz jahrhundertelanger kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Zwangsmaßnahmen ist es nie gelungen, die von den Kirchen verurteilten Praktiken aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Gleichzeitig muss der überwältigende Einfluss der christlichen Sexualethik auf viele Bereiche der menschlichen Existenz, einschließlich Recht, Bildung und Medizin, anerkannt werden. Angesichts der aktuellen politischen und rechtlichen Situation in Polen ist dieses Thema nach wie vor hochaktuell, was die Überzeugung bestärkt, dass
es sich lohnt, umfangreiche Forschungen zu diesem Thema durchzuführen, um sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart besser zu verstehen.