Inszenierung viraler Geschichten

Dass nicht nur Krankheitserreger, sondern auch Geschichten „viral“ gehen können, sei heutzutage eine feuilletonistische Binse, stellte Matthias Melcher in seinem Vortrag am 21. November fest. Doch historische Annäherungen an dieses Phänomen gingen nur selten über das 20. Jahrhundert hinaus. Dabei stelle das 19. Jahrhundert mit seiner zunehmenden Alphabetisierung und wachsenden Medienlandschaft ein spannendes Untersuchungsobjekt für Verbreitungswege und Effekte von Erzählungen aller Art da. Gerade im politisch und kulturell umkämpften Ostmitteleuropa sei es besonders relevant zu untersuchen, wessen Narrative verfangen und Menschen mobilisieren.

Der Vortrag ging in diesem Zusammenhang auf einen Aspekt des übergeordneten Dissertationsprojekts „Geschichte(n) schreiben. Fakt, Fiktion und Narration und ihre Wirkmächtigkeit im Osteuropa des 19. Jahrhunderts“ ein: Inszenierung. Einerseits thematisierte der Historiker, wie sich Erzählungen textimmanent in Szene setzen. Andererseits spielte auch die Präsentation eines Narrativs in gedruckten Publikationen, öffentlichen Veranstaltungen oder persönlicher Kommunikation eine Rolle. Anhand der Erzählung vom Fund der „Königinhofer Handschrift“, der Ritualmordanklage von Tiszaeszlár und der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ analysierte der Vortrag beispielhaft die Inszenierung von viralen Storys im Ostmitteleuropa des Langen 19. Jahrhunderts.

Das Dissertationsprojekt des jungen Historikers erregte auch durch seine Ausweitung in die Gegenwart die Aufmerksamkeit des Publikums. In einer spannenden Diskussion wurden unter anderem konkrete Strategien besprochen, die zur Verbreitung von Gerüchten in der frühen Neuzeit dienten. in Form viraler Geschichten thematisiert. Neben der zunehmenden Bedeutung der Visualität zeigte die Debatte einmal mehr, wie wichtig es ist, die spezifischen Aspekte der Verbreitung teils wahrer, teils fiktiver Geschichten in Bezug auf Ideologie und spezifische politische Ziele auch in verschiedenen sozialen Kontexten zu untersuchen.

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Wykład
Prof. dr hab. Karsten Brüggemann (Tallinn): A Transnational Perspective on the Baltic Wars of Independence
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