Gewalt und die Krise der Regierungsführung in Ostmitteleuropa

Am 13. November 2020 fand die Online-Tagung „Violence and the Crisis of Governance in East Central Europe, 1905-1925‟ statt. Die Veranstaltung, an der die DHIW-Außenstelle Vilnius organisatorisch partizipierte, wurde durch das Litauische Historische Institut ins Leben gerufen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern diskutierten die komplexe Beziehung zwischen Staatszerfall und Gewalt in Ostmitteleuropa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

Die Vorträge konzentrierten sich auf unterschiedliche gewalttätige Gruppen und ihre Beziehungen zu staatlichen Akteuren. Unter anderem wurden die Themen Paramilitarismus, Warlordismus, Terror, Pogrome und Bevölkerungspolitik diskutiert. Die Keynote von John Horne (Dublin) mit dem Titel „When Did the Great War End?‟ zeigte, dass um die Geschichte des Ersten Weltkriegs zu verstehen, eine Entwicklung eines transnationalen Verständnisses der Ursprünge, Natur und Folgen von Gewalt nötig sei. 

Die Panels wurden thematisch strukturiert. Die Beiträge des ersten Teils verdeutlichten die Zusammenhänge zwischen Sozialordnung, Verwaltungsgewalt und Kriminalität während und nach dem Ersten Weltkrieg. Den Auftakt machte Andrea Griffante (Vilnius) mit einem Vortrag über die Militäradministration, Gewalt und Zivilisten na Litwie w latach 1914–1918. Er bemerkte, dass die physische Gewalt als Instrument zur Gehorsamsproduktion der Bevölkerung diente und so versuchte, die Kohärenz der einheimischen Gesellschaft zu stören. Litewski historyk Vytautas Petronis (Wilno) präsentierte anschließend das Thema des Banditismus na Litwie zwischen 1914 und 1920. In seinem Vortrag konzentrierte er sich auf die „history from below‟ (Geschichte von unten) und erklärte, das Phänomen Banditismus sei als Nebeneffekt der militärischen Gewalt gegen die lokale Bevölkerung zu sehen. 

Das zweite Panel thematisierte die Gewalt nach dem Ersten Weltkrieg in Ungarn, Polen und Litauen. Historyk Béla Bodó (Bonn) referierte über die kollektive Biografie und Motivationen der rechten paramilitärischen Gruppen in der Phase des „Weißen Terrors‟ in Ungarn. Jochen Böhler (Jena) zeichnete daraufhin die Aktivitäten von paramilitärischen „spin off‟-Gruppen während der Kämpfe um das polnische Westgrenzland nach. Ihm zufolge implementierten diese Gruppen ihre eigene Kampfagenda und funktionierten außerhalb der regulären staatlichen Streitkräfte. Während des Grenzkonflikts seien sie in einigen Situationen jedoch auch von staatlichen Mächten eingesetzt worden. Historiker Tomas Balkelis (Vilnius) analysierte in seinem Vortrag die Logik der Gewalt während des Polnisch-Litauischen Kriegs, der von 1920 bis 1923 dauerte. Dieser Konflikt um die polnisch-litauische neutrale Zone mache deutlich, wie Polen und Litauen als moderne Nationalstaaten versuchten, jene Menschen zu nationalisieren, die sich am Rande ihrer nationalen Projekte befanden. Damit argumentierte er, dass Gewalt ein wesentliches Instrument der Nationenbildung gewesen sei, welches die Menschen dazu bewegt habe, eine nationale Identität anzunehmen – vor allem aus Gründen des Überlebens und der eigenen Sicherheit.

Im Panel „Krisen, Umverteilungen und Epidemien‟ stand die Rolle der Eisenbahn nach Ende des Ersten Weltkrieges in Ostmitteleuropa im Mittelpunkt. Maciej Górny (Warschau), ehemaliger Mitarbeiter des DHIW, stellte zwei konträre Seiten der Eisenbahn vor: Einerseits sei sie als wesentliches Element des neuentstandenen Nationalstaates zu sehen, andererseits habe man an Bahnhöfen und in Zügen zu Angriffen gegen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen (insbesondere Juden) beobachten können. Damit unterstrich der Historiker den Einfluss der Eisenbahn auf die Verbreitung von Gewalt. Daran anknüpfend diskutierte Łukasz Mieszkowski (Warschau) die symbolische und physische Gewalt im Kampf gegen Typhus in den polnischen Eisenbahnen und an den Repatriierungspunkten in den Jahren 1918 bis 1922. Damit bot er einen Überblick über den polnischen Kampf gegen die sanitäre und epidemiologische Krise in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Mit einem besonderen Fokus auf der Theorie und Praxis von sog. Desinfektions- und Badezügen, welche mitunter kontraproduktive Auswirkungen hatten, wies Mieszkowski darauf hin, dass diese Züge die Gesundheitsprobleme nicht lösten, sondern im Gegenteil eine direkte Gefahr für die Gesundheit darstellen konnten. Darüber hinaus seien Minderheiten für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich gemacht worden. Die damalige Hygienepolitik könne somit als eine neue Form sozialer Kontrolle der Bevölkerung gesehen werden.

Dem Thema Antisemitismus widmeten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im letzten Panel. Darius Staliūnas (Vilnius) und Raul Carstocea (Leicester) referierten über die antisemitische Gewalt in Litauen und Rumänien. Anhand einer Fallstudie des Pogroms in Panevėžys näherte sich der litauische Historiker Staliūnas den militärischen Pogromen in Litauen 1919 und 1920. Der rumänische Historiker Carstocea gab einen umfassenden und detaillierten Einblick in die Radikalisierung der antisemitischen Gewalt in Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg. Im letzten Vortrag diskutierte Julia Eichenberg (Berlin) die Herausforderungen der Anwendung vergleichender historischer Forschung auf Gewalt in der Nachkriegszeit. Sie sprach sich dafür aus, die Perspektive von Geschlecht, Rechtsgeschichte und digitaler Geschichte mit in die Gewaltforschung einzubeziehen. Der Abschlusskommentar von Ronald Suny (Ann Arbor) rundete die informative und gelungene Tagung ab, ordnete verschiedene Anregungen und fasste die Vorträge zusammen. Er resümierte, dass Gewalt gleichzeitig als Produkt und „Geburtshelfer‟ der Entstehung von Nationalstaaten betrachtet werden könne. Ein zusammenfassender Tagungsband in englischer Sprache unter der Herausgeberschaft der Organisatoren ist geplant.

24
Apr
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