Funktionalität von Geschichte in der Spätmoderne
Einleitung
Seit einiger Zeit scheint sich ein grundsätzlicher Wandel in der Funktionalität von Geschichte und in der öffentlichen wie individuellen Nutzung der Vergangenheit zu vollziehen. Der zunehmende Präsentismus der Konsumgesellschaft wird durch die steigende Präsenz der Vergangenheit im öffentlichen Raum, in Medien aller Art, bei der Unterhaltung und Freizeitgestaltung, im Tourismus und selbst in der Wirtschaft begleitet. Historische Stoffe füllen die Fernsehprogramme, Buchhandlungen sowie Programme touristischer Sonderfahrten, Unterhaltungsspiele basierend auf historischen Themen finden guten Absatz, Kommunen organisieren Mittelaltermärkte, subkulturelle Szenen begeistern sich für das Mittelalter, Re-Enactments aller Art erfreuen sich großer Beliebtheit, Firmen werben mit „Tradition“ und berufen sich in ihrer corporate identity auf die Vergangenheit. Menschen sind von Retro-Stilen und Comebacks umgeben.
Teilweise lässt sich diese Entwicklung auf den Ökonomismus des gegenwärtigen, neoliberal geprägten politischen und gesellschaftlichen Diskurses zurückführen. Doch handelt es sich hierbei weniger um die Ursache als ebenfalls um ein Symptom von tiefgreifenden kulturellen Umwandlungen, die in der Spätmoderne zu verorten sind. Die zeitgleiche Pluralisierung und Individualisierung von Identitäten und Lebensentwürfen von Menschen sowie von kollektiven Zugehörigkeiten implizieren eine neue Vielfalt und Flexibilität bei den Formen des Geschichtsgebrauchs, des Geschichtsverständnisses und der Nutzung bestimmter Geschichtsnarrative. So scheint nach zwei Jahrhunderten des Historismus auch die ästhetische Funktion der Vergangenheit wieder deutlich zugenommen zu haben, während etwa die Geschichtsdidaktik und Museumspädagogik grundsätzlichen Daseinsfragen nachgehen müssen.
Mit diesen widersprüchlichen Phänomenen befassen sich die Projekte des Forschungsbereiches. Ihre Aufgabe ist es, die betreffenden Prozesse im Kontext der Spätmoderne zu analysieren und zu interpretieren. Im Vordergrund stehen Fragen nach der Funktionalität und Funktionalisierung von Geschichte, ihrer Nutzung und Anwendung sowie nach dem Wandel des Geschichtsverständnisses und nach einer neuen Bedeutung von Kategorien wie Authentizität im „Geschichtskonsum“ der Erlebnisgesellschaft. Nicht zuletzt wird auch nach den Konsequenzen für die Rolle und gesellschaftliche Relevanz der Geschichtswissenschaft gefragt. Auch wenn der Stellenwert der Vergangenheit etwa in der politischen Bildung und politischen Legitimation zwangsläufig berücksichtigt wird, richtet sich die Aufmerksamkeit weit über den Rahmen der Studien zur Erinnerung und Geschichtspolitik hinaus.
Es erscheint daher attraktiv, zeitliche Konjunkturen des Geschichtsgebrauchs und den damit verbundenen Anstieg der Produktion und Verbreitung von Geschichtsmedien für den gesamten ostmitteleuropäischen Raum oder Teile dessen epochengebunden zu untersuchen. Speichermedien (im allerweitesten Sinn) und der intermediale Transfer spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie deren Produzenten und die Akteure des Transfers. Gefragt wird nach überlieferten Figuren, Ereignissen, Orten und Themen sowie der Rolle der erinnerten Bilder und Narrative sowie nach kollektiven, immer flexibleren, pluralen und variierenden Selbst- und Fremdbildern, die die Geschichtsmedien prägen. Dabei spielt die Generation als Untersuchungskategorie eine wichtige Rolle.
Die gegenwärtige Situation in Polen weist einerseits weitgehende symptomatische Gemeinsamkeiten mit anderen Ländern und Gesellschaften Europas auf, lässt andererseits aber viele historisch und kulturell gegebene spezifische Züge erkennen. Vor diesem Hintergrund eignet sie sich als guter Ausgangspunkt für transregional oder vergleichend angelegte Analysen, um die im Fokus stehenden Phänomene zu interpretieren.
Teilprojekt 1
Infrastrukturen der Geschichtskultur
Bearbeiterin: Magdalena Saryusz-Wolska
Seit dem memory boom in den 1990er Jahren gehören Arbeiten über den gesellschaftlichen und kulturellen Umgang mit der Geschichte zum akademischen Mainstream. Der Großteil der geisteswissenschaftlichen Erinnerungsforschung konzentriert sich auf semantische Analysen von kulturellen Repräsentationen. Betrachtet man bisherige Publikationen zu diesem Thema, so sticht eine Vielzahl an Analysen von literarischen Texten, künstlerischen Werken, politischen Ritualen und Gedächtnisorten ins Auge. Die Relevanz solcher Forschungen wird damit begründet, dass es sich beim kulturellen Gedächtnis um ein diskursives Phänomen handelt, das in einem Wechselverhältnis zur sozialen Realität steht. Es heißt also, Erinnerungsdiskurse seien wie Seismographen, die uns Einblicke in Wandlungen von Identitäten und gesellschaftlichen Ordnungen gewähren.
Bereits mehrfach hat es in der Vergangenheit seitens der Erinnerungsforschung Forderungen nach methodischen Innovationen gegeben, welche jedoch nur selten umgesetzt wurden. Hierzu zählen auch Vorschläge, sich stärker auf die Akteure und Institutionen der Erinnerungskultur zu konzentrieren. Wie diese Prozesse im Einzelnen aussehen, lässt sich in mikrohistorischen und mikrosoziologischen Fallstudien untersuchen. Das kulturelle Gedächtnis entsteht nämlich nicht aus dem Nichts: Es wird ‚gemacht‘ und ‚genutzt‘. In diesem Zusammenhang erscheint allerdings der Begriff der ‚Geschichtskultur‘ angemessener als die Kategorie der ‚Erinnerungskultur‘. Während ‚Erinnerungskultur‘ vor allem kulturelle Repräsentationen der Vergangenheit umfasst, bezieht sich ‚Geschichtskultur‘ – wie bereits Jörn Rüsen konstatierte – vorwiegend auf die gesellschaftliche Praxis in diesem Bereich.
Diesen Prämissen folgend, konzentriert sich das vorliegende Projekt auf die Herstellung und Nutzung der Geschichtskultur aus infrastruktureller und ökonomischer Perspektive. Methodisch orientiert sich das Vorhaben an den sog. ‚Science and Technology Studies‘ sowie den ‚Infrastructure Studies‘. Beide Ansätze konzentrieren sich auf die Bedeutung des materiell-technologischen Unterbaus für die Wissensproduktion. Analog dazu wird behauptet, dass die materiell-technologischen Faktoren die Produktion von geschichtsorientierten Praktiken ebenfalls prägen.
Der genaue Blick hinter die Kulissen der Verlage, Zeitungsredaktionen, Rundfunkanstalten sowie anderer geschichtskulturell relevanter Institutionen offenbart Abläufe, die aus der Ferne verdeckt bleiben. Sie können nicht mit hermeneutischen Verfahren aufgedeckt werden. Zu diesen ‚unsichtbaren‘ Abläufen gehören u.a. Aspekte der Organisation und Finanzierung der Geschichtskultur. Die Identifizierung von einzelnen Akteuren und Institutionen wird erst durch eine strukturierte Analyse der Entstehungs- und Rezeptionsgeschichten von Geschichtsfilmen, Fernsehsendungen, Museen, Jubiläumsfeiern, Touristenführungen u.Ä. ermöglicht. Anders als in der öffentlichen Kommunikation geht es in internen Besprechungen oft um Infrastruktur- und Finanzfragen. Autor/innen, Redakteur/innen und Produzent/innen verhandeln Honorare, setzen Termine fest, planen Dienstreisen u.v.m. Insbesondere der kommerzielle Aspekt spielt eine prägende Rolle sowohl für Unternehmen wie Verlage, Filmproduktions- oder Eventfirmen als auch für öffentlich finanzierte Institutionen. Hinzu kommen bürokratische Prozesse, wie z.B. das Vergaberecht, die Ausschreibungsregeln oder Abrechnungstermine, die oftmals die Funktionsweise einzelner Projekte stark regulieren. In diesem Sinne wirken sich Ökonomie und Bürokratie nicht minder stark auf die Geschichtskultur aus als politische Richtlinien.
Angesichts der offensichtlichen Rolle des Geldes für die Geschichtskultur ist es verwunderlich, dass dieses Thema noch weitgehend unerforscht scheint. Die bevorzugte Herangehensweise ist hierbei sowohl synchron als auch diachron. Einerseits geht es um die strukturellen Bedingungen der ‚Ökonomie der Geschichtskultur‘, andererseits um ihre historische Entwicklung. Es handelt sich nämlich keinesfalls um ein junges Phänomen. Während in früheren Epochen Künstler, welche historische Motive in ihre Werke integrierten, von Mäzenen abhängig waren, übernahm in der Moderne der Markt die regulierende Rolle. Für die Bevölkerung waren die Teilnahme an öffentlichen Feierlichkeiten, das Betrachten von historistischen Gemälden oder die Anschaffung historischer Romane aus Gründen der räumlichen Distanz und hoher Preise oft unmöglich. Zum Verkauf standen indes Kupferstichreproduktionen mit entsprechenden Motiven, günstige Zeitungsromane, Jubiläumsmedaillen u.v.m. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen Fotografien von historischen Objekten oder Militärparaden hinzu, für die ebenfalls eine Nachfrage bestand. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich weitere Medien der Geschichtsvermittlung rasant, doch – anders als die politischen Kontexte – sind die ökonomischen Aspekte dieses Wandels kaum erforscht. Selbstverständlich existieren fragmentarische Studien, die sich auf Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Erinnerungskultur konzentrieren, wobei diese in der Regel wirtschaftshistorischen Fragestellungen folgen.
Vertiefende Fallstudien können aussagekräftige Daten über die Kosten, Einnahmen und Regulierungen innerhalb der Geschichtskultur liefern. Um aus mikrohistorischen case studies allgemeinere Struktur- und Entwicklungsmuster herauszuarbeiten, muss ihre Auswahl genau durchdacht werden. Vielversprechend sind Beispiele aus mitteleuropäischen Ländern – darunter Polen – da diese Länder im Laufe des 20. Jahrhunderts von unterschiedlichen wirtschaftlichen Systemen geprägt waren. Die Entscheidungsmacht ausschließlich den politischen Instanzen zuzuschreiben, ist eine starke Simplifizierung. Selbst im Staatssozialismus spielte Geld eine wesentliche Rolle bei der Planung von Museumsprojekten, in der Filmproduktion oder der Kunstförderung. Nicht weniger aussagekräftig sind die Wandlungen der Geschichtskultur in Anbetracht der wirtschaftlichen Transformation auf der Schwelle zum 21. Jahrhundert.
Teilprojekt 2
Geschichte als Werkzeug der polnischen Diplomatie gegenüber Deutschland 1918–1939
Bearbeiter: Bartosz Dziewanowski-Stefańczyk
Die neuen Staaten Ostmitteleuropas begannen nach 1918, ihre jeweiligen Selbstbilder überwiegend mit Hilfe von historischen Argumenten zu formen, um so spezifische Grenzen zu ziehen und ihr Recht auf souveräne Existenz in einem breiteren Kontext zu verteidigen. Im Hinblick auf die Staatspropaganda stellt Polen ein sehr interessantes Beispiel dar, da es durch seine Grenzlage zu Deutschland, dem wichtigsten der Zentralstaaten, gezwungen war, der dortigen diplomatisch-revisionistischen Offensive entgegenzuwirken. Hier waren Grenzfragen und Korridorpropaganda von größter Bedeutung. Die polnischen Regierungen nach 1918 versuchten, das Recht auf die Existenz des Staates durch dessen Geschichte zu unterstreichen und auch sein Außenbild auf diese Weise zu gestalten. Deshalb erstellte das polnische Außenministerium bereits 1918 Richtlinien für die sogenannte „Auslandspropaganda“. Die damalige auswärtige Geschichtspolitik (dann als Propaganda bezeichnet) kann daher als Vorläufer der heutigen Geschichtsdiplomatie Polens gesehen werden. Um die Verwendung von Geschichte in den internationalen Beziehungen in der Spätmoderne zu verstehen, ist es nötig, die Anwendung der Geschichte in der Zwischenkriegszeit zu untersuchen.
Bisher ist die Verwendung von Geschichte durch die polnische Diplomatie gegenüber Deutschland jedoch kaum erforscht. Ziel des Forschungsprojekts ist es daher, die Anwendung von Geschichte und Erinnerung durch die polnische Außenpolitik sowie durch nicht offizielle Akteure gegenüber Deutschland in den Jahren 1918 bis 1939 zu analysieren. Obwohl der Schwerpunkt auf der Analyse der auswärtigen Geschichtspolitik liegt, werden auch andere Formen der Kulturdiplomatie mit Bezug zu Deutschland in einem breiteren Kontext betrachtet.
Der hier verwendete Begriff der auswärtigen Geschichtspolitik wird verstanden als „das Bemühen des Staates, das gewünschte Bild seiner eigenen Geschichte oder eines bestimmten Aspekts seiner Geschichte im Ausland zu fördern“ (Jan Rydel). Die gewählte Methode besteht in der Untersuchung der Geschichtspolitik, die sich aus der Analyse ihrer Formen und Mittel, Inhalte, Funktionen, Akteure und Kontexte zusammensetzt. Darüber hinaus orientiert sich das Vorhaben methodisch an der Theorie der „Soft Power“ sowie an dem „Nation Branding“-Ansatz. Neben den Tätigkeiten der offiziellen Akteure wie dem Auswärtigen Amt, der polnischen Botschaft in Berlin und den Konsulaten, werden auch ausgewählte wissenschaftliche Institute, Presseartikel, staatlich geförderte historische Ausstellungen, Filmvorführungen, Historikerkongresse und für Deutschland bestimmte Publikationen, Feste und Feiertage polnischer Institutionen in Deutschland sowie Reden von Politikern und Diplomaten in Deutschland untersucht. Folgende Forschungsfragen werden im Rahmen des Projekts behandelt: Was waren die Richtlinien der auswärtigen Geschichtspolitik gegenüber Deutschland; gab es ähnliche Richtlinien für alle Institutionen, die sich mit deutschen Themen befassten? Gab es eine kohärente Vision der polnischen Geschichte und welches Bild von Polen war gewünscht? Zu den Kernfragen gehört auch, ob es spezifische polnische Leitlinien für einzelne Regionen in Deutschland gab. Besonders interessant ist dabei auch, wie sich die Geschichtsdarstellung in Abhängigkeit von den politischen Entwicklungen in Polen und Deutschland verändert hat. Das anschließende Projektziel ist, die Funktionen der Geschichte in der polnischen Deutschlandpolitik in der Zwischenkriegszeit mit der Geschichtsdiplomatie der Volksrepublik Polen und der Polens nach 1989 zu vergleichen.
Okt