Gleich zwei Premieren galt es an diesem Dienstag, dem 27. Oktober 2020 am DHI Warschau zu meistern: Zum einen fand aufgrund der COVID-19-Pandemie erstmals ein Dienstagsvortrag online statt und zum anderen befand sich das Referentenduo ebenfalls an zwei unterschiedlichen Orten, in Prag und St. Andrews (UK). Liest man beides als Merkmale einer internationalen und globalen Kommunikation, fügten sie sich passgenau in das Thema des Vortrags.
Dr. Bernhard Struck und Marcel Koschek führten die mehr als 40 virtuell Anwesenden – u.a. aus Polen, Deutschland, Litauen, Tschechien und Japan – in die Esperantobewegung ein, die im ausgehenden 19. Jahrhundert von Ludwik Leijzer Zamenhof erfunden wurde und von dessen polnischer Heimat aus schnell Anhänger in ganz Europa und darüber hinaus fand.
Der Doppelvortrag mit dem Titel „Polnische Esperantisten als lokale Internationalisten? Die Esperantobewegung in Ostmitteleuropa, 1880er–1930“ erwuchs aus dem Forschungsprojekt „Esperanto and Internationalism, c. 1880s-1920s“ (seit 2019). Dieses wird geleitet von Dr. Bernhard Struck, Associate Professor in Modern European History an der Universität St. Andrews (UK) und Gründungsdirektor des Institute for Transnational & Spatial History in St. Andrews, an dem das Projekt angesiedelt ist. Der Historiker Marcel Koschek ist daran mit seinem Dissertationsvorhaben „Local Internationalists. Polish and Central European Esperantist Networks between the local, national and global, 1880-1920s” beteiligt.
Den zeitlichen Schwerpunkt legten die Referenten auf die frühe Phase bis zum ersten Weltkrieg. Zunächst stellte Struck die Ziele des Projekts vor, um anschließend nach den komplexen räumlichen Bezügen auf personalen, lokalen, regionalen, nationalen und globalen Ebenen der Bewegung und Netzwerken der Esperantisten zu fragen. Als Quellen dienten die systematisch angelegten Adressbücher und Kongressmaterialien der Esperantisten, sowie zahlreiche Fachjournale. Die so erfassten sozialgeografischen Daten wurden mittels Karten visualisiert, womit z.B. Verbindungsgürtel der aktiven Esperantisten von Großbritannien bis Böhmen, ebenso wie weiße Flecke, wie etwa Italien oder Spanien aufgezeigt wurden. Netzwerkgrafiken veranschaulichten darüber hinaus Konnexe der lokalen und regionalen Subgruppen. Insbesondere die regionsspezifischen Untersuchungen machten die Heterogenität der bislang oft als Einheit behandelten Esperantisten deutlich. Untersucht wurden etwa das besondere Engagement der Lehrerinnen in den englischen Midlands oder der Mediziner in Warschau. Auf deren nachhaltiges Wirken, besonders in der esperantistischen Ärztevereinigung TEKA (1908), legte Koschek anhand von Mikrostudien ein besonderes Augenmerk. Zur Gruppe der „Lokalen Internationalisten“ zählte beispielsweise der Warschauer Arzt Wilhelm Róbin, der sich für die Bewegung engagierte. Zwar beschränkte sich dessen persönliches Engagement auf Polen, führte jedoch dank der gezielt gepflegten Vernetzung auch zu internationaler Wirksamkeit.
In der sich anschließenden lebhaften Diskussion – mündlich wie parallel dazu schriftlich im Chat – interessierten unter anderem Fragen nach der Zugehörigkeit zu und Vernetzung mit anderen Reformbewegungen um 1900, wie der Freidenker- oder der Frauenrechtsbewegung. Dabei kamen zahlreiche Überlappungen zum Vorschein, ebenso wie der Wandel der Subgruppen der Bewegung von der Anfangsphase bis zur Zwischenkriegszeit.
Wie bei der analogen Form wurde auch diese Veranstaltung simultan deutsch und polnisch gedolmetscht. Die inhaltlich wie technisch gelungene Auftaktveranstaltung stimmt zuversichtlich, dass die folgenden Dienstagsvorträge mithilfe dieses neuen Kommunikationssystem ebenso starken Zulauf erfahren werden, wie seinerzeit die immer noch lebendige Esperantobewegung.